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Lenins Irokesen





Beeinflusst von den Sex Pistols, entwickelte sich im Ostblock eine lebendige Punkszene. Als Mekka galt Polen. Am meisten Furore mit ihren kritischen Texten machten jedoch die Punks aus Sibirien.

«Das äussere Kennzeichen der Punks ist eine Frisur, die an einen Hahnenkamm erinnert, während der Rest des Kopfs kahl ist», heisst es in einem internen Papier des polnischen Geheimdienstes aus dem Jahre 1986. Verfasst wurde es von sogenannten Jugend-Inspektoren, die am Rockfestival von Jarocin eine Gefahrenanalyse für das realsozialistische Regime vorgenommen hatten. Laut dieser sind die Punks unter neun ausgewiesenen Jugendsubkulturen mit 300 Vertretern und 1000 Sympathisanten die zahlreichste Gruppe. Der Hahnenkamm sei «orange, rosa oder grün gefärbt», manchmal aber handle es sich bei der Frisur auch einfach um einen Igel-Haarschnitt, «bei dem einzelne Haarsträhnen mit Zucker zu heraufragenden Stacheln» geformt worden seien, wissen die Inspektoren zu berichten. Auch stellen sie eine leichte Abnahme der Zahl der Punks fest, ernsthafte Probleme habe es nicht gegeben.

Punkszene in Polen
 
Ein Jahr zuvor sah dies ganz anders aus. Damals hatte ein Student aus Danzig während eines Konzerts Flugblätter der anarchistischen «Bewegung einer Alternativen Gesellschaft» (RSA) verteilt. Er war daraufhin verhaftet und kurz eingesperrt worden. RSA verbreitete in Danzig zusammen mit Vertretern der lokalen Punkszene seit 1983 auch Flugblätter der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc.

Zur gleichen Zeit taucht in vielen Städten ein Graffiti auf, das eine schwarze Lenin-Büste mit einem roten Irokesenschnitt zeigt. Die Kartonschablone wird per Post an Gewährsleute in ganz Polen versandt. Punks malen sich diesen Lenin bald auf T-Shirts und erscheinen damit teilweise auch auf legalen Konzerten der anarchischen Subkultur in sogenannten Kulturhäusern. Gern gesehen wird das von dem jungen Punk Dariusz Paczkowski entworfene Motiv von den Offiziellen natürlich nicht, doch in Polen drückten auch viele Vertreter der Staatsmacht beide Augen zu. Das alles machte Polen in den Augen der wesentlich härter verfolgten Punks in den Nachbarländern des Ostblocks zu einem Mekka dieser Subkultur.

Nur vereinzelt aber schaffen es Punksongs an der Zensurbehörde vorbei auf Schallplatten. Der Band «Dezerter» gelingt dies mit einer Persiflage. Zu harten Gitarrenriffs wird die leuchtende Zukunft des Sozialismus besungen. 1985 veröffentlicht die Band im Untergrund das Album «Izolacja». Das Kassettencover zeigte ein Arbeitslager hinter Stacheldraht. Auf die B-Seite kopieren die Polen unter dem Titel «Bands aus der UdSSR» Aufnahmen, die eine Studentin aus Moskau nach Warschau geschmuggelt hat. Die Sowjetbands werden später als die Moskauer Band «DK» sowie «AU» aus Leningrad identifiziert.
Beide 1980 gegründeten Untergrundbands gelten heute als Vorläufer des russischen Punks. «Ich bin ein Niemand und so soll es bleiben / Genau dies ist mein Ziel / Ich will keinen Titel gewinnen», krächzte Swin, der Sänger von «UA». Die Band besingt in Vulgärsprache vor allem Trinkgelage und Ungeziefer. Bei ihren illegalen Auftritten in Künstlerwohnungen spielen die staatlich nicht als Musiker eingestuften Mitglieder der Band mit Gegenästhetik und nihilistischem Protest. Ernsthafte Probleme mit den Autoritäten bekommt trotz Kontakten zu anerkannten Intellektuellen die Moskauer Band «DK». Der Sänger landet wegen angeblicher Wirtschaftsverbrechen im Gefängnis. DK tritt nur selten auf, produziert aber Dutzende von Alben auf Tonbändern.


Bewegung gegen die Besatzung

Tallinn und Nordestland konnten als einzige Gebiete der Sowjetunion seit Anfang der siebziger Jahre Westfernsehen, nämlich das finnische Programm, empfangen. Das machte die kleine Baltenrepublik zu einer Art Amerika, wie viele einstigen Sowjetpunks berichten.

Die politische Sprengkraft des Punks erfährt das Sowjetregime allerdings erst bei einem Auftritt der estnischen Band «Propeller» im September 1980. Bei einem von den Autoritäten abgebrochenen Konzert der staatlich zugelassenen Profimusiker kommt es in Tallinn zu Jugendunruhen. Amateuraufnahmen zeigen, wie uniformierte und zivile Sicherheitskräfte vor allem Jagd auf Jugendliche mit auffälligen Frisuren machen. Irokesenschnitte sind nicht darunter, wohl aber unordentliche, etwas längere Haare, ansatzweise Igelfrisuren.
Die bereits 1978 gegründete Band «Propeller» macht sich auf Estnisch über den Sowjetalltag lustig. Nach den Unruhen wird die Band auf Druck des Geheimdienstes KGB aufgelöst. Punkrockkonzerte werden verboten, denn viele lokale Bands verstehen sich als Teil einer breiteren Bewegung gegen die Sowjetbesatzung des Baltikums. 

Sowjetische Punks "als Stimme der Freiheit"
In der lettischen Hauptstadt Riga fordern Punkfans 1987 bei einem Konzert in Sprechchören den Abzug der Sowjettruppen. «Wir Punks waren damals die Stimme der Freiheit», erinnert sich der Punkmusiker Raimunds Lagimows bei einem Treffen in Riga. Wichtig für die Punks des Baltikums sei vor allem ihre sprachliche Eigenständigkeit gewesen, unterstreicht Villu Tamme, der seine erste Punkband Anfang der achtziger Jahre gründete. «Damals waren estnische und russische Jugendliche viel mehr getrennt als heute», erzählt der Este während eines persönlichen Gesprächs in Tallinn. Mit Freunden organisierte Tamme gar ein illegales Punkfestival ausserhalb von Tallinn, bei dem keine russischsprachigen Punkbands auftraten. «Im Zug beobachteten uns Spitzel, doch sie konnten die Miliz, die uns festnehmen sollte, nicht schnell genug rufen; später konnte uns keiner mehr in den Wäldern finden», lacht Tamme noch heute. Der KGB habe jedoch auch eingesehen, dass es wichtigere Probleme in Estland gebe als die Punks, relativiert Tamme, der damals auch Kontakte zu Dissidenten hatte.

Tamme wird mit seiner Band in den Jahren der Perestroika bekannt, als sich das Sowjetregime unter Michail Gorbatschow für Reformen öffnete. Furore machten Tamme und seine Mitmusiker beim ersten vom Komsomol, der sowjetischen Jugendorganisation, organisierten Punkfestival in Podolsk bei Moskau. Sie traten mit Irokesenfrisuren auf und sangen ein Lied über Esten, die einen Tunnel unter den Baltischen Meerbusen graben, um danach alle nach Finnland abzuhauen.

Jagd auf Langhaarige

Der Kreml hatte seit den fünfziger Jahren versucht, die UdSSR von Einflüssen der westlichen Pop-Kultur abzuschirmen. Unter Generalsekretär Juri Andropow wurden 1983 schliesslich Langhaarfrisuren für Männer an den Universitäten auch offiziell verboten. Betroffen davon waren nicht nur Punks, sondern auch Heavy-Metal-Fans und weitere Gruppen der sogenannten «Neformaly», der informellen, aufmüpfigen Jugend. Vor allem in Moskau machten danach gewaltbereite Vorstadtgangs, unterstützt von der Miliz, Jagd auf Langhaarige, deren Haarpracht oft auf der Stelle zwangsweise abgeschert wurde.
Allerdings hatten auch schon früher Langhaarige mit erheblichem Druck zu rechnen, wurden doch konservative Modevorstellungen und Anstand zelebriert. 

Wolodymyr Priadko, ein ukrainischer Musikjournalist, erinnert sich im Gespräch an eine Demonstration von Mitstudenten des Eisenbahnertechnikums in einer ukrainischen Kleinstadt gegen seine langen Haare zehn Jahre vor dem offiziellen Verbot. «Ich hörte damals viel jugoslawische Rockmusik», erzählt Priadko. Er hatte damals weder Zugang zum finnischen Fernsehen, noch lebte er in einer Hafenstadt, in die sowjetische Seeleute leicht Tonträger und Mode aus dem Westen schmuggeln konnten. Seine Taktik beruhte darauf, Musikmagazine aus sozialistischen Bruderstaaten zu sich nach Hause in die ukrainische Provinz zu bestellen. So kam Priadko, der seine langen Haare trotz Protesten nicht gestutzt hatte, später auch zum Punk. «Der Preis waren viel schlechtere Schulnoten», sagt er heute lachend.

Von den Vorteilen der sowjetischen Peripherie erzählt in Tbilissi auch der Sänger von «Kommandantis Saati», der wohl ersten Punkband der Georgischen SSR. Dort Mitte der achtziger Jahre ein Punk zu sein und erst noch auf Georgisch zu singen, sei einem Spiessrutenlauf gleichgekommen, erinnert er sich. Gleichzeitig aber sei so weit von der Moskauer Parteizentrale entfernt sehr vieles möglich gewesen. So fand das erste offizielle Rockfestival der Sowjetunion bereits 1980 in Tbilissi statt, lange bevor das staatliche Monopollabel «Melodija» erste Schallplatten mit weicher Rockmusik veröffentlichte.

Punk aus Sibirien

Auch in der russischen Punkmusik kamen die wichtigsten Impulse aus der Provinz. Als einflussreichster Sowjetpunker gilt heute Jegor Letow, der Gründer der sibirischen Punkband «Graschdanskaja Oborona» (Bürgerschutz). In seiner Omsker Wohnung spielt Letow 1983 eines der sowjetkritischsten Untergrundalben ein. Letow wird bald vom KGB vorgeladen und zwangsweise in die Psychiatrie eingeliefert, eine beliebte Repressionsmethode gegen Andersdenkende in der Sowjetunion. Doch Letow lässt sich nicht brechen. Den Höhepunkt seiner Popularität erreicht er in der Perestroika-Zeit dank Auftritten mit der Nowosibirsker Punkbardin Janka Djagilewa. Bei den Konzerten tritt Letow mit langen Haaren, dicker Brille und einem Anarchisten-Abzeichen am Revers seines schwarzen Mantels auf. Doch nach dem Untergang der Sowjetunion will ihm die neue Freiheit nicht so recht gefallen. Aus Protest gegen die Kommerzialisierung tritt seine Band 1993 auf von der rechtsextremen «National-Bolschewistischen Partei» organisierten Konzerten auf. Letow fordert dort jenen Totalitarismus zurück, dessen Opfer er keine zehn Jahre zuvor geworden war.

Punk und Zerfall des Kommunismus
Heute wird über den Beitrag der osteuropäischen Punk-Subkultur zum Zerfall des Kommunismus besonders in Polen kontrovers diskutiert. So widmet das Danziger Solidarnosc-Museum diesem jugendkulturellen Widerstand gar einen eigenen Raum. Unterstrichen wird dort die Insel der Freiheit, die legale wie illegale Konzerte boten, aber auch die Persiflagen, die vielen die Angst vor dem System nahm. Die wissenschaftliche Aufarbeitung steckt besonders für die Sowjetunion jedoch erst in den Kinderschuhen. Interessant ist bestimmt, dass viele Punks mit der schwierigen Wendezeit nach dem Untergang des kommunistischen Imperiums besser zurechtkamen als die angepassten Sowjetbürger. Bei der Organisation von Konzerten und dem Vertrieb von Tonträgern im Untergrund war viel Eigeninitiative gefragt. Das erwies sich nun auch in der Marktwirtschaft als Vorteil.

Ideologisch drifteten allerdings vor allem in Russland wichtige Exponenten auf eine rechtsnationale Schiene ab, viele liessen sich auch kommerzialisieren. In Polen schwenkten ein paar Punkbands auf christliche Inhalte um. Die nun offen zugänglichen Informationskanäle führten zu einem Zerfall der zuvor sehr integrativen Punkszene in eine Reihe von Strömungen, die oft aus den USA importiert wurden. Musikalisch zeichneten sich allerdings nur noch wenige dieser Bands durch Eigenständigkeit aus.

Paul Flückiger

* Dieser Text ist im September 2017 in der NZZ (nzz.ch) erschienen.

Fot. Mgf



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