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Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 geführt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell. 




- Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Lebens?

- Hier ist die Frage nach einer willentlichen Entscheidung zum Glauben ausschlaggebend. Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin. Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit“.

Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen.

- Die Wissenschaft, mit anderen Worten das Streben nach Erkenntnis und Wahrheit, sollten vom Staat und der Kirche unabhängige Universitäten unterstützen. Ihre diesbezüglichen, in der „Autonomie einer Universität“ erwähnten Postulate haben einst eine heftige Diskussion ausgelöst.

Ich wurde damals von der kantonalen Regierung kritisiert, da ich es als Rektor gewagt hatte, volle Freiheit für die Entwicklung der Universitäten zu fordern. Meiner Auffassung nach sollte der Staat sie finanzieren und ihnen zugleich die volle Souveränität gewähren. Dem Argument „Wer zahlt, befiehlt“ hielt ich stets entgegen, dass dies nicht die geistigen Gebiete betreffen dürfte.

Ich nannte zwei Beispiele: eines aus der Geschichte der Religion – die grossen buddhistischen und christlichen Kloester wurden immer von den Gläubigen unterstützt, die nie Macht forderten. Ähnlich in Bezug auf Kunst – ein echter Mäzen befiehlt nicht, sondern gibt dem Künstler die Lebens- und Schaffensmöglichkeit, er gibt ihm freie Hand.

Dasselbe verlangte ich für die Wissenschaft. Ich habe zwar verloren, aber ein gesätes Korn wächst weiter. Schlimmstenfalls wird die Universität aber immer mehr einer Berufsschule gleichen.

Pazifismus, Humanismus

- Kontrovers sind auch Ihre Aussagen über Pazifismus und Humanismus…

- Meiner Meinung nach sind die Pazifisten für die Kriege verantwortlich. Sie rüsten die friedlichen Länder und Nationen ab, und in den kämpferischen dürften sie den Pazifismus nicht verbreiten.

- Die Idee ist jedoch schön. Das Streben nach Frieden…

- …der Weg zur Hölle ist mit solchen Ideen gepflastert! Der heilige Johannes von Damaskus pflegte zu sagen: „Lobenswert ist es, eigenes Unrecht zu vergeben. Aber Unrecht anderer zu verziehen ist eine grosse Gemeinheit“. In Polen kämpften wir seit Jahrhunderten nicht, um jemanden zu unterjochen; ähnlich wie in der Schweiz – das war schon immer ein friedvolles Volk. Wozu also Pazifismus? Nein, ich empfinde keine Sympathie für diese Leute.

Und Humanismus? Er ist ein Aberglaube! Die ganze Wissenschaft von der Astronomie bis zur Psychologie, widerspricht dieser Weltanschauung. Der Mensch ist nur ein Fragment des Alls, ein kleines Bruchstück des Lebens. Die Selbstüberschätzung des Menschen ist also, von wissenschaftlichem Standpunkt aus, ein Missverständnis. Wir haben dazu keinerlei Anlass, und alles spricht dagegen. Das Universum ist de facto so riesig, dass die Möglichkeit, dass Leben und Intelligenz sich auch anderswo entwickelt haben, sehr gross ist. Humanist kann man nur von einem religiösen Gesichtspunkt aus sein.

- Während man sich in Westeuropa mit dem pazifistischen und humanistischen Gedanken auseinandersetzt, wird in Polen mit dem Thema Kirche und ihrer Beteiligung an der Politik konfrontiert.

- Es gibt viele Anhänger der Theorie, dass ein Staat religiös neutral sein sollte. Meiner Ansicht nach ist ein konfessioneller Staat, und im Falle Polens ein christlicher Staat, heute durchhaus möglich.

Dies bedeutet nicht, dass er intolerant sein muss. Es ist eher ein Staat, der sich auf moralische Prinzipien stützt, der sich auf die Bibel beruft und der sich verpflichtet fühlt, diese Religion zu propagieren. In so einem Staat ist der Religionsunterricht in den Schulen integriert, aber das haben wir bereits in den meisten westeuropäischen Ländern. Und trotzdem sind wir gute Demokraten.

Öffnung nach Europa

- Es wird oft von einem spezifischen Ethos des „polnischen Katholizismus“ gesprochen, zugleich aber plädiert man in Warschau für eine rasche Öffnung nach Europa. Ist das kein Widerspruch? Bedeute die Annäherung zu Europa nicht einen notwendigen Verzicht auf dieses religiöse Ethos?

- Das spielt keine Rolle. Europa ist sehr vielfältig, da gibt es auch Länder, die völlig katholisch sind wie Irland und Spanien. Warum sollte also Polen seinen spezifischen Katholizismus nicht behalten; wenn ein vereintes Europa entsteht, muss es pluralistisch sein, weder katholisch noch protestantisch, sondern religiös neutral.

Wir Polen haben zwar eine bisweilen eigenartig erscheinende, jedoch tiefgehende Religiosität. Die in Scharen betenden Menschen sind ein Beweis dafür. Man sagt, dass die polnische Kirche sehr oberflächlich sei, was nicht war ist. Auf diesen Vorwurf habe ich kürzlich einem Freund gesagt: „Du hast aber nie in Polen Beichte gehört. Ich aber habe es getan“.

- Sie haben das Sowjetologie-Institut (Ost-Kolleg) in Köln gegründet und haben sich mehrmals wissenschaftlich mit dem Thema Marxismus-Leninismus auseinandergesetzt. War das nicht eine Zeitverschwendung?

- Nein. Ich habe kürzlich sogar einen Artikel darüber geschrieben, und ich habe bereits einen Brief von der Zeitschrift „Woprosy filosofii“ (Fragen der Philosophie) aus Moskau bekommen. In den vergangenen 30 Jahren haben sie nie meinen Namen erwähnt, ohne das Wort „Obskurant“ hinzufügen, und heute bitten sie um meinen Artikel; die Zeiten ändern sich.

Das ganze System ist unter anderem darum zerfallen, weil wir niemals aufgegeben hatten, gegen seine Befürworter zu polemisieren.

- Den wissenschaftlichen Dissertationen über Marxismus-Leninismus haben Sie mehr als 30 Jahre Ihres Lebens geopfert. Hat Sie denn diese Philosophie begeistert?

- Begeistert, das ist zu viel gesagt. Viele Sachen haben mir aber gefallen (als ich das einmal am Schweizer Fernsehen gestanden habe, sind sie beinahe von den Stühlen gefallen…) – hauptsächlich der Kampf. Marx hatte sein Ideal des Kampfes um die soziale Gerechtigkeit, und im Geiste bin ich immer noch ein Soldat geblieben. Dieser Kampf hat mir also imponiert. Meiner Meinung nach war Marx beinahe ein Genie. Trotz der Tatsache, dass ich ihm gegenüber Respekt habe, ist die Idee des Marxismus-Leninismus jedoch eine totale Verirrung.

Und die Zukunft

- Aus welchem Grund hat sich der Marxismus nicht bewahrheitet? Trotz den vielen, wie Sie gesagt haben, genialen Gedanken?

- Es gibt viele Gründe. Einer davon ist, dass diese Ideologie – beispielsweise in Polen – von Menschen propagiert wurde, die mit der Kultur und Mentalität des Landes nichts zu tun hatten. In Polen haben es eben Russen versucht, die dem osteuropäischen, also orthodoxen Kulturkreis angehören.

- Sie haben die Niedergang des Kommunismus vorhergesagt. Was nun?

- Prognostizieren ist heutzutage ein sehr riskantes Geschäft. Was ist denn eine Prognose? Es ist ein Syllogismus: „Wenn die Umstände unabänderlich bleiben, passiert dies und jenes“. Aber die Umstände verändern sich zurzeit immer schneller. Wir haben es ausserdem mit einem Phänomen zu tun, das die Geschichte noch nicht kannte: Die kulturellen Grenzen werden transparenter als je zuvor, und der technische Forstschritt erreicht ein Tempo, das es früher nie gegeben hat. In dieser sich rasch verändernden Welt sind jegliche Vorhersagen sehr unsicher. Also ist es besser, darauf zu verzichten.

Zu der Zeit, als ich Rektor der Universität Fribourg war, pflegte ich den Studenten bei der Immatrikulation folgendes zu sagen: „Ich habe in meinem Leben manches erlebt und viel gesehen. Aber das, was ihr zu sehen bekommt, wird Geschichte sein!“ Bis heute scheint es sich zu bestätigen.

- Seit über 60 Jahren leben Sie in der Schweiz. Fühlen Sie sich als Pole oder als Schweizer?

- „Womit die Schale in der Jugendzeit durchdrungen wird…“ lautet ein polnisches Sprichwort. Die Schweiz wurde jedoch zu meiner zweiten Heimat. Übrigens ist es leicht für einen Polen, „schweizerisch“ zu werden. Ich meine hiermit die traditionelle Schweiz, mit der wir Polen vieles gemeinsam haben: den Willen zur Freiheit, zur Unabhängigkeit und zur Selbstverteidigung. Jeder Schweizer hat ein Gewehr zu Hause und nimmt obligatorisch an Schiessübungen teil; jeder Pole bleibt in seiner tiefsten Seele immer ein Soldat. Geistig sind wir also ziemlich ähnlich, obwohl es unter den Schweizern schon sehr viele vom Niedergang bedrohte Menschen gibt.

- Was meinen Sie damit?

- Ganz Westeuropa ist zu einem grossen Teil von einem geistigen Niedergang bedroht. Sie wollen keine Kinder haben, sie wollen sich nicht wehren. Sie sind eine sterbende Gesellschaft. In der Schweiz kann man diesen Prozess klar beobachten. Politisch ist sie aber ein sehr zivilisiertes Land, von dem die Polen und andere viel lernen können.

Nützliche Philosophie

- Die Uniform eines Majors, das dominikanische Ordenskleid, der Anzug eines Professors – Ihre Kleiderkollektion ist ungewöhnlich. Woher kommt die Idee mit der Pilotenweste?

- Den Pilotenkurs habe ich aus pragmatischen Gründen gemacht. Ich war damals Direktor des Ost-Kollegs in Köln und brauchte für die Fahrt von Fribourg her sehr viel Zeit. Ich habe also fliegen gelernt, weil der Flug lediglich zweieinhalb Stunden dauerte. Das Unternehmen war sehr kostspielig, ich hatte jedoch Glück. Ich habe damals Vorträge in einer amerikanischen Stadt gehalten, und unter den Zuhörern war eine ältere Dame, die Frau eines grossen Stahlindustriellen.

Vor meiner Abreise lud er mich zum Essen ein und sagte: „Hör mal zu, Joe! Du hast mir einen grossen Gefallen getan. Weisst du, die Frauen der reichen Männer haben oft nichts zu tun, sie langweilen sich und werden unerträglich. Heute hat meine Frau ihre Philosophie, sie hat sich geändert – und ich habe meine Ruhe. Was kann ich also für dich tun?“ Ich habe ihm von meinem Jugendtraum, fliegen zu können, erzählt. Er hat dann sein Scheckbuch herausgeholt und mir diese Möglichkeit bezahlt. So kann auch die Philosophie nützlich sein!


Maria Graczyk
Fribourg

(Dieses Interview ist 1992 in der Luzerner Zeitung erschienen)

Der aus Polen stammende Joseph Maria Bochenski (1902-1995) war ein international angesehener Philosoph, Logiker und Dominikaner, der für eine Kultur des rationalen Arguments eingetreten war und für seine direkten, oft unkonventionellen Äusserungen bekannt war. Professor Bochenski hat an der Universität Fribourg von 1945 bis 1972 zeitgenössische Philosophie doziert und das Osteuropa-Institut geleitet. Von 1964 bis 1966 war er Rektor der Hochschule. Autor zahlreicher Schriften, u.a.: „Die Logik der Religion“, „Why studies in Soviet Philosophy“, „Wissenschaft und Glaube“, „Marxismus-Leninismus“, „Autorität, Freiheit, Glaube. Sozialphilosophische Studien“, „Gottes Dasein und Wesen, Logische Studien zur Summa Theologiae“.

Kommentare

  1. Kocham go do dziś, za grobem. Mimo kilku totalnych bzdur, co je głosił. Nie zetknął nas los, więc nie mogłem Go poinformować, że się myli. Jest dla mnie nadal nie do pojęcia, jak ten sam mózg może służyć jednocześnie do myślenia i do wierzenia. Oczywiście wiem o ewolucyjnie pozytywnym dziedzictwie wiary, jako elementu uczenia się w dzieciństwie i młodości. Ja rozstałem się z wiarą katolicką przedwcześnie, już przed komunią (katecheta był idiota). Moja potrzeba wiary jednak nadal istniała, więc do 15-go roku życia szukałem jakiegoś boga, a nawet iluś (chyba 11-tu) wymyśliłem. Zastane (m.in. te sekty z AP) ani moje własne mnie nie zadowoliły i zostałem się, jak ten pies niewierny, któremu (o dziwo!) nic nie straszne. A psa dominikańskiego (domini canes) Bocheńskiego będę nadal kochał i podziwiał, jak innych Wielkich z mojego Panteonu.

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