„Ich träume von
einer weltoffenen, europäischen Stadt“, pflegte Pawel Adamowicz zu sagen. Der
Danziger Oberbürgermeister wurde vor ein paar Tagen während einer charitativen
Veranstaltung erstochen. Hier eine Reportage von 2006, in der Adamowicz uber Günter
Grass spricht und den Danziger Genius
Loci zu erklären versucht. Angereichert
mit Gesprächen und Besuchen bei Lech Walesa, Anna Walentynowicz, dem
vergessenen Streikführer Ludwik Pradzynski und dem Schriftsteller Paweł Huelle.
Paul Flückiger, Danzig (Gdańsk)
Da trommelt er also auf seiner
Bank, seit Jahren schon. Am Rande des Wybicki- Platzes mitten im Danziger
Stadtteil Wrzeszcz. Manchmal setzt sich ein Rentner neben ihn, in abgeschabten
Kleidern, oder ein Tourist, den Fotoapparat umgehängt. Den klein gewachsenen
Mann mit dem erhobenen Blick kümmert das alles nicht. Nicht einmal, das sein
gusseiserner Schlagstock abgebrochen ist.
Langfuhr hieß der Stadtteil vor
dem Krieg. Und die Familie Grass
hatte unweit von hier einen Kolonialwarenladen. Im Haus an der Ulica Lelewela
13 – ehemals: Labensweg 13 – wohnt heute Anna Jurczuk. Seit Jahren öffnet sie
keinem ungebetenen Besucher mehr. Es kommen viele, seit der Blechtrommler Oskar
Matzerath, der kleine Mann auf der Bank, als Romanfigur weltberühmt geworden
ist.
Nur eines hat Anna Jurczuk vor
ihrem Haus bislang nicht gesehen: Demonstrationen und Hasstiraden. Doch dies
hat sich geändert, seit Günter Grass in Deutschland öffentlich seine
SS-Vergangenheit eingestanden hat. (...)
Pawel Adamowicz über Grass’ SS-Geständnis
Es gab Polens Rechtskonservativen
wenige Wochen vor den Kommunalwahlen den Vorwand für einen Frontalangriff gegen
die liberal-bürgerliche Bürgerplattform (PO), ihren politischen Gegner:
angebliche Speichellecker der Deutschen, die Grass seine Danziger
Ehrenbürgerwürde nicht entziehen wollten. Ein Angriff gegen all jene auch, die
sich der national-katholischen Polenvision des Staatspräsidenten und seines
Zwillingsbruders Jaroslaw, des Ministerpräsidenten, widersetzen.
Gegen jene, die auf Polens
jahrhundertelange Tradition der Toleranz verweisen, statt einem
ausländerfeindlichen Nationalkatholizismus anzuhängen. Und ganz besonders gegen
einen, der für ebendiese Haltung steht; Pawel
Adamowicz, 41 Jahre alt. Adamowicz trägt Brille und einen gut sitzenden
Anzug, er ist Mitglied der Bürgerplattform, er ist der Oberbürgermeister von
Danzig. „Ich träume von einer weltoffenen, europäischen Stadt“, sagt Adamowicz.
Er sitzt in einem schlichten Raum am Ende unzähliger Korridorschluchten, seinem
Arbeitszimmer.
Weltoffen, europäisch. Den
Strategen seines ärgsten politischen Gegners, der Partei Recht und
Gerechtigkeit (PiS) der Brüder Kaczynski, ist er ein Hindernis. Sie versuchen,
Adamowicz zu beschädigen, wo immer sich eine Gelegenheit dafür bietet. Und
selten schien eine so günstig wie gerade eben. Schließlich hat Adamowicz Grass
nach dessen SS-Bekenntnis in Schutz genommen. Die Nationalkonservativen
witterten die Chance, die bürgerliche Mitte als deutsch unterwandert, als nicht
polnisch also, vorzuführen. So kurz vor der Wahl im November zudem, bei der die
PiS die Großstädte erobern will.
Über den Versuch, ihn zu stürzen,
kann Pawel Adamowicz inzwischen lächeln. Denn die Danziger Lokalpolitiker der
PiS waren nicht geneigt, den von den Chefs in Warschau befohlenen Angriffsplan
umzusetzen. Ein Antrag, in dem sich der Stadtrat dafür entschuldigen sollte,
dass Grass einst die Ehrenbürgerwürde der Stadt erhalten hatte, scheiterte. Die
Kaczynski- Partei verfehlte die Mehrheit.
Die PiS wolle antideutsche
Ressentiments ausnutzen, sagt Adamowicz. Dies gelinge ihr aber nicht, denn
Danzig sei eine Großstadt und eine besondere dazu. Jeder dritte Danziger stamme
aus den „Kresy“, den ehemaligen polnischen Ostgebieten. „Diese Vertriebenen
wissen, was Totalitarismus bedeutet.“ Adamowiczs Eltern stammen aus dem Umland
von Vilnius, heute Litauen, einst sowjetisch besetzt. Auch sie wurden als Polen
von den Sowjets zwangsweise in die damalige Volksrepublik Polen umgesiedelt.
Tausend Jahre lang sei Danzig eine multikulturelle Stadt gewesen, das lasse
sich nicht einfach ausradieren. „Nehmen wir Grass“, sagt Adamowicz stolz. „In
Deutschland machen sie ihn nun fertig, in Danzig gehört er zu unserer Familie.“
Um den Attacken von rechts
rechtzeitig zu begegnen, gab Adamowicz eine Umfrage in Auftrag. Ob die Polen
Grass die Ehrenbürgerwürde wieder aberkennen wollten? Gut ein Viertel der
Befragten, meist ältere Menschen mit schlechter Bildung, waren dafür; 58
Prozent dagegen, in Danzig selbst sogar 72 Prozent.
Adamowiczs Widerstand gegen die
PiS und die Niederlage der Kaczynski- Partei im Danziger Stadtparlament stehen
für etwas Neues. Dass sich die bürgerliche Mitte erfolgreich gegen die
Ressentiment-Kampagnen von rechts wehrt, hat es in Polen zuletzt kaum gegeben.
Vor der Wahl wollten die Kaczynskis die Todesstrafe oder Reparationszahlungen
von Deutschland. Kein lauter Einwand von den Liberalen – aus Furcht, in der
Bevölkerung als zu weich oder nicht patriotisch genug zu gelten. Ein Vorwurf,
der vermeintlich schwer wiegt in Polen.
Solidarność und ihre zerstrittenen Kinder
In Danzig treffen sich
Kaczynski-Fans und ihre Gegner wie überall im Land zu hitzigen Gesprächen am
Familientisch, in der Kneipe oder zufällig in der S-Bahn. Viele kommen aus
demselben Lager: der einstigen Massengewerkschaft Solidarnosc, in der 1981
jeder vierte Pole war.
Damals, in jenen heißen
Streikwochen im Spätsommer 1980 und den Jahren danach, arbeiteten die heutigen
liberalen Parteiführer zusammen mit Lech und Jaroslaw Kaczynski am Sturz des
kommunistischen Regimes. Heute sitzen sie mit den mächtigen Zwillingen fast nur
noch unter Zwang gemeinsam an einem Tisch. Die Kaczynskis behaupten nun, der
einstige Solidarnosc-Führer Lech Walesa und die Liberalen hätten das Vaterland
1989 am „Runden Tisch“ verraten. Die liberale Solidarnosc-Fraktion habe sich
mit den Kommunisten verbündet, um die Filetstücke der polnischen Wirtschaft an
den Westen – insbesondere Deutschland – zu verschachern.
(...) der Schriftsteller Pawel Huelle ist nur einer von vielen
Intellektuellen, die die jüngste Entwicklung besorgt. Er schüttelt den Kopf. Er
stellt sich darauf ein, dass die Kaczynski-Zwillinge länger regieren. Tief
sitzende Frustration und Ungeduld hätten die Rechtspopulisten an die Macht
geschwemmt, sagt er. Er weiß, dass etwa die Wendeverlierer Polens die
kraftmeiernden Sprüche der Kaczynskis gerne hören. Die Rentner, die Bevölkerung
in den ländlichen Gegenden und einst wichtige Solidarnosc-Aktivisten.
„Polen, wach auf!“, hat jemand an
die Mauer der Danziger Werft gemalt. Am Werktor Nummer 3 wird nur
hereingelassen, wessen Besuch vorher bewilligt worden ist. „Wir haben damals
auch nicht jeden reingelassen“, sagt Ludwik
Pradzynski auf dem Weg zum Sektor K 3. Der untersetzte, graumelierte
Mittfünfziger steht in keinem Geschichtsbuch, obwohl der Streik ohne ihn kaum
stattgefunden hätte. „Hier auf K 3 hat alles begonnen!“, sagt Pradzynski. Eine
Frachteraußenwand steht halbfertig fast genau dort, wo er am 14. August in der
Frühe das erste Transparent angebracht hat. „Dort haben sich die Zweifler und die
Vorsichtigen versteckt“, sagt Pradzynski und zeigt auf den Durchgang zwischen
zwei Schuppen. Aber heute sei die Werft nicht mehr, was sie mal war.
Auf rund ein Fünftel ist die
Belegschaft seit 1980 geschrumpft. „Die jungen Arbeiter sind alle längst ins
Ausland abgehauen“, klagt Pradzynski, der heute wie damals in der
Werkzeugmacherei arbeitet. Gerade einmal so viel wie eine Suite in einem
Danziger Luxushotel kostet, verdient er im Monat. „Ich hoffe noch auf die
Kaczynskis – die einzige patriotische Regierung seit der Wende“, sagt er. Dann
muss er los, die Arbeit ruft.
Bei der „Heldin von Danzig“ zu Hause
An der Ulica Grunwaldska, noch im
Zentrum, wohnt seit über drei Jahrzehnten Anna
Walentynowicz. Eine Küche, zwei Zimmer. Sie hatte nur noch Träume, als sie
nach dem Krieg – von den Sowjets aus dem heute ukrainischen Wolhynien
vertrieben – in Danzig ankam. Walentynowiczs Entlassung gab den Arbeitern der
Danziger Leninwerft Mitte August 1980 den Vorwand zu jenem Streik, der die Welt
veränderte. Und Lech Walesa zu einer Ikone machte. „Walesa ist ein
Landesverräter!“, wettert Walentynowicz heute. „Der Geheimdienst hat ihn zum
Streik gefahren“, behauptet sie. In ihrer Schrankwand stehen patriotische
Bücher und Heiligenbilder. (...) Die
Kranführerin – über die Regisseur Volker Schlöndorff seinen neuesten Film gedreht
hat – hofft dank der Kaczynskis auf späte Gerechtigkeit.
Stadtteil Oliwa, eine erst vor
gut hundert Jahren eingemeindete Abtei mit Umland. Bekannt ist der Stadtteil
heute vor allem wegen seines schönen Waldes, den Radwegen und wegen des
Villenviertels. Auch Lech Walesa
wohnt hier, ehemaliger Streikführer, Friedensnobelpreisträger und polnische
Legende.
„Die erste Frage bitte!“
Walesa hat sich in den Sessel
gefläzt und sieht sein Gegenüber gelangweilt an. Als ehemaliger Staatsführer
sei er verpflichtet gewesen, mit Günter Grass zu streiten, sagt er.
Ausgerechnet er, den die Rechte heute als „Liberalen“ beschimpft, forderte
Grass auf, seine Danziger Ehrenbürgerwürde zurückzugeben. Die Medien stürzten
sich auf jedes Wort. Sie tun es noch immer, das weiß er. Als Grass Danzigs
Bürgermeister schrieb, war Walesa besänftigt, Grass durfte seinetwegen nun doch
gerne Ehrenbürger bleiben.
„Noch etwas?“ Walesa blickt auf
die Uhr. Noch bleibt etwas Zeit bis zum nächsten Termin, dem Empfang eines
Rockmusikers. Ja noch etwas, etwas Wichtiges: das deutsch-polnische Verhältnis.
Walesa fasst sich kurz. „Nach dem Ende des Kommunismus ist das Zeitalter des
Krieges zu Ende. Die Welt braucht heute Konsumenten.“
Paweł Adamowicz – ein Student von Lech Kaczyński
Walesa, so sieht es zum Beispiel
Schriftsteller Pawel Huelle, ist polnische Geschichte. Die Zukunft, das sind
Danzigs Bürgermeister Pawel Adamowicz und, zumindest vorerst, die Kaczynskis.
Aber es wird sich auch ein Generationenwechsel vollziehen. Mit einer schönen
Pointe. Lech Kaczynski und Adamowicz waren in den letzten Jahren des
Sozialismus Oppositionelle in Polen. Kaczynski, 16 Jahre älter, war ein
Mitarbeiter Walesas, als Adamowicz Flugblätter verteilte und Molotow- Cocktails
warf. Kaczynski las an der Universität Arbeitsrecht. Adamowicz war einer seiner
Studenten.
Kerzen
am Tatort – Danzig im Januar 2019
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Diese Reportage (gekürzt) ist am 12.09.2006 im Tagesspiegel erschienen.
Fot. Mgf
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