An der Grenze zwischen Litauen und der russischen
Exklave Kaliningrad mischen sich starke Sicherheitsmassnahmen mit Pragmatismus.
Der Ost-West-Konflikt ist spürbar.
Die Grenzbrücke zwischen Litauen und der Region Kaliningrad. (Foto: Paul Flückiger) |
Paul Flückiger, Vistytis und Sowjetsk
«Litauen – 100 Jahre Unabhängigkeitserklärung!», prangt ein Banner in den
Landesfarben Rot-Grün-Gelb am Eingang des Städtchens Vistytis im Dreiländereck
von Litauen, Russland und Polen. Im 20. Jahrhundert erlebte der baltische
Staat viel Gewalt, vor allem von deutscher und russischer Seite. Seit 1991 ist
Litauen erneut unabhängig – doch in Vistytis ist Russland nur 20 Meter
entfernt: Die gut 400 Bewohner sehen jede Nacht die bedrohlich wirkenden
Leuchttürme der Exklave Kaliningrad. Im Februar entdeckten die Litauer bei der
rund 60 Kilometer westlich gelegenen Stadt Tschernjachowsk russische
Iskander-Raketen, die auch mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können.
Diese kann man von Vistytis aus natürlich nicht sehen, doch genügt das Wissen
um das militärische Potenzial und die historische Erfahrung mit Russland, um
die Bewohner erschaudern zu lassen.
Schwimmen nur innerorts
Im Alltag von Vistytis spielt Russland dagegen
kaum eine Rolle: Es gibt keinen Grenzübergang, und den russischen Grenzposten
am Stadtrand verdeckt ein hoher Eternitzaun. Wegen der Grenznähe ist das
Schwimmen im Vistytis-See nur beim Ortskern erlaubt. Bojen markieren die
russische Grenze, und Ufertafeln warnen vor versehentlichen Grenzübertritten. Dem
Vernehmen nach sollen diese im Nachgang bürokratisch zeitaufwendig, jedoch eher
ungefährlich sein.
Bei der Weiterfahrt Richtung Kybartai schmiegt
sich die Überlandstrasse eng an die Grenze zu Kaliningrad, die neuerdings auf
litauischer Seite mit einem gut zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun gesichert
ist. Litauen hatte im Juni 2017 mit dem Bau dieser Befestigung begonnen. Sie
wurde innert sechs Monaten fertig und soll bis 2020 vollständig mit
Überwachungskameras ausgerüstet sein. Laut offiziellen Angaben geht es darum,
Schmuggler und illegale Migranten abzuhalten. Gleichzeitig geht es Vilnius aber
auch darum, den Litauern ein Sicherheitsgefühl in einer geopolitischen
angespannten Lage zu vermitteln.
Es herrscht ein grundlegendes Misstrauen gegenüber Russland seit dessen
Aggression in der Ostukraine im Jahr 2014 – durchaus gefördert durch Putins
verbale Drohungen gegenüber verschiedenen baltischen Staaten. In Litauen sind
deshalb heute auch 1000 Nato-Soldaten stationiert. Russland versucht immer
wieder, diese zu diskreditieren. Sauer aufgestossen sind den Litauern die
Fake-News rund um den Nato-Stützpunkt Rukla. So sollte im Februar 2017 ein
minderjähriges litauisches Mädchen von dort stationierten Nato-Soldaten
vergewaltigt worden sein. Dies behaupteten aus Russland stammende E-Mails, die
bereitwillig von russischen Websites aufgegriffen wurden. Und kürzlich sei ein
schwerer Verkehrsunfall von einem Nato-Radpanzer provoziert worden. Beide
Meldungen konnten umgehend und überzeugend dementiert werden. In beiden Fällen
handelt es sich offenbar um eine russische Desinformationskampagne.
Im Grenzgebiet sind die Sicherheitsvorkehrungen deshalb streng. Kurz vor
Kybartai, Kaliningrad liegt mittlerweile etwa einen Kilometer westwärts, wird
der Berichterstatter angehalten. Zwei litauische Grenzwächter bitten um die
Ausweise und beginnen dann mit langwierigen telefonischen Abklärungen. Die
jungen Beamten sind freundlich, aber im Auftreten schnittig und bestimmt. Zum
Schluss verabschiedet sich einer von ihnen auf Polnisch; zuvor wurde nur auf
Russisch kommuniziert. Auch in der Gegenrichtung wird kontrolliert.
Pragmatische Beziehungen
Im Nordosten Kaliningrads bildet der Fluss Memel die Grenze. Hier hat
Litauen bisher auf Stacheldrahtzäune ebenso verzichtet wie Russland. Das Wasser
fliesse wie immer träge Richtung Ostsee, und sich daran zu freuen, sei vor
Einbruch der Dunkelheit jedem erlaubt, berichtet ein Anwohner etwas ausserhalb
der Kleinstadt Sowjetsk (früher Tilsit). Nur bei Dunkelheit sei wegen der
russischen Kontrollen von Uferspaziergängen abzuraten. «Wenn der Wasserstand
niedrig ist, kann man nämlich nach Litauen hinüberwaten», erklärt der Mann.
Hier sind auch die bilateralen Beziehungen pragmatischer als auf der
nationalen Ebene. 2017 stellte die litauische Regierung umgerechnet fast 20
Millionen Franken für die Zusammenarbeit mit grenznahen Gebieten in Kaliningrad
bereit. Das Geld fliesst unter anderem an Gemeinden mit einer litauischen
Minderheit oder litauischen Baudenkmälern. Davon profitiert etwa das Stadtmuseum
von Sowjetsk, das einen Raum für litauische Austauschprojekte zur Verfügung
stellt. Auch in Litauen gedruckte Tourismusprospekte bewerben beide Seiten der
Memel. Nur wenige Touristen aus Litauen finden jedoch den Weg nach Sowjetsk,
das über eine altehrwürdige Stahlbrücke mit ihrem Land verbunden ist.
Allerdings leben 1000 Mitglieder der litauischen Minderheit – in ganz
Kaliningrad sind es 9800 oder ein Prozent der Bevölkerung – in Sowjetsk. Obwohl
es keine litauischen Schulen gibt, erlaubt Moskau in einigen Volksschulen
litauischen Sprachunterricht. Seit ein paar Jahren ist es laut Angaben des
Bildungsministeriums in Vilnius indes schwieriger geworden, eine Arbeitserlaubnis
für entsandte Lehrkräfte zu erhalten. Zuletzt wurden sämtliche Arbeitsvisa
verweigert. Die geopolitischen Spannungen werden nun auch auf dem Rücken der
litauischen Minderheit ausgetragen.
Umstrittenes Verfahren
Litauens Regierung hat vor Jahresfrist ein Strafverfahren wegen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen die Verantwortlichen der
Erstürmung des Fernsehturmes in Vilnius im Januar 1991 eröffnet. Damals wurden
14 Personen erschossen. Die Abspaltung der Sowjetrepublik konnte indes nicht
verhindert werden; vielmehr beschleunigte sich der Prozess. Bei den meisten der
67 Angeklagten handelt es sich heute um russische Bürger, unter ihnen den
damaligen Verteidigungsminister Dmitri Jasow.
Über die meisten wird in absentia gerichtet. Jasow und weiteren Exponenten der sowjetischen Besatzungsmacht droht «lebenslänglich». Russland lehnt die Rechtshilfegesuche nicht nur ab, sondern hat Ende Juli gar ein Strafverfahren gegen die mit dem Fall betrauten litauischen Staatsanwälte und Richter eröffnet. Sie versuchten bewusst, Unschuldige hinter Gitter zu bringen, begründete die Staatsanwaltschaft den Schritt. «Moskau will Druck aufsetzen, wir aber sind ein demokratisches Land mit einem funktionierenden Rechtsstaat», konterte Viktoras Pranckietis, der Vorsitzende des litauischen Parlaments. «Wir lassen uns nicht unter Druck setzen.»
Dieser Text ist am 27.08.2018 in der NZZ (nzz.ch) erschienen.
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