Direkt zum Hauptbereich

Die Russen machen Schweizer Käse

Die EU-Sanktionen gegen Russland haben einen Wäschereibesitzer aus Kaliningrad dazu gebracht, weitab der Grossstadt etwas Neues zu versuchen. In einem alten ostpreussischen Gasthaus stellt er nun Schweizer Käse her. Und er hat einen Traum.

 

«Käsen ist schwere Handarbeit», erzählt die Käsetechnikerin Maria. (Foto: Paul Flückiger)

Paul Flückiger, Neman

«Er ist in seine Heimat zurückgekehrt – der Tilsiter», prangt auf dem Werbeprospekt des «Deutschen Hauses» an der Sieger-Strasse 51a in Neman. Der grosse Vorplatz wird gerade neu asphaltiert. Das schmucke kleine Städtchen am Nordrand der russischen Exklave Kaliningrad (früher Königsberg) rüstet sich für bessere Zeiten.
Litauen – und damit die EU – liegt keinen Kilometer im Norden am anderen Ufer des Flusses Neman, der auf deutsch Memel heisst. Das Gebiet dort drüben war damals das in Liedern gern besungene Memelland. Vor dem Zweiten Weltkrieg verkehrte eine Fähre über den Fluss, und das 1792 erbaute «Deutsche Haus» war ein beliebtes Ausflugslokal. Heute liegt die nächste Brücke fast 13 Kilometer entfernt in Sowjetsk (früher Tilsit), und wenn Einheimische sie überqueren wollen, müssen sie lange Wartezeiten in Kauf nehmen und dazu ein Schengen-Visum in ihrem russischen Pass kleben haben.
Neman liegt heute ziemlich verloren am Rande der russischen Exklave, und selten kommt hier ein auswärtiger Besucher vorbei. Ein alter deutscher Wasserturm soll die einzige Touristenattraktion darstellen, etwas weiter hinten an der Nebenstrasse gibt es noch eine Kirche der kleinen lokalen litauischen Minderheit. Im unscheinbaren Innenhof des «Deutschen Hauses», am Fusse einer überwachsenen Schlossruine, jedoch sind die wahren Schätze des Städtchens verborgen.
Hunderte von Käselaiben lagern hier in einem Keller, weitere Dutzend befinden sich gerade im Salzbad. In einem kleinen Backsteinhaus sind drei Frauen in Plastikhauben und Gummistiefeln am Hantieren. «Keinen Schritt weiter, Fremde haben hier keinen Zutritt!», rufen sie einem zu. Wer sich vorher telefonisch angemeldet hat, darf dem Treiben immerhin durch eine kleine Scheibe zusehen. Denn hier befindet sich vermutlich die einzige und zugleich kleinste Schaukäserei in ganz Russland.

Tête de Moine als Herausforderung

«Käsen ist schwere Handarbeit», erzählt die Käsetechnikerin Maria und lacht verschmitzt. In der Manufaktur namens «Käserei Region Tilsit-Ragnit» wird von den beiden Technikerinnen und einer Käsewäscherin gerade Tilsiter hergestellt, zwei Sorten, eine sehr rezente Urform und eine mildere, modernere Version.
Die Käserei produziert aus täglich rund 900 Kilogramm Milch, die aus dem Umland angeliefert wird, insgesamt zehn Käsesorten. Vier davon sind typische Schweizer Käse, nämlich Emmentaler, die beiden Tilsiter-Sorten und Tête de Moine, der hier allerdings Monastirski, der Klösterliche, genannt wird. Mit Letzterem sei es ein Problem, erzählt die Käsetechnikerin Maria, da es noch nicht gelungen sei, den Käse so hart hinzukriegen, dass er zu den in der Schweiz erhältlichen Rosetten geraspelt werden könne.
«Wir müssen da noch etwas experimentieren», sagt die Russin, «aber Iwan Iwanowitsch wird schon etwas einfallen.» Iwan Iwanowitsch Artjuch ist der Gründer der Käserei, aber leider auf Dienstreise. Er sei sicher gerade dabei, sich eine Käserei anzuschauen, tuscheln die Käserinnen aus der Region Sowjetsk.

Schweizer Gastarbeiter erfanden den Tilsiter

Das heute noch sehr sowjetisch klingende Sowjetsk hiess bis Ende des Zweiten Weltkriegs Tilsit, so wie der Käse, der aus dieser Gegend stammt. Auch in Neman und in den umliegenden Dörfern wurde dieser Käse hergestellt. Erfunden haben den Tilsiter im 19. Jahrhundert Schweizer Kuhhirten, die von deutschen Junkern, Grossgrundbesitzern aus Ostpreussen, auf ihre Höfe angeworben worden waren.
So begann in der Gegend des heute russischen Sowjetsk der europäische Siegeszug des Tilsiters. Schweizer auf Heimaturlaub sollen den Käse dann in der Eidgenossenschaft populär gemacht haben, und im Deutschen Reich wurde er durch den Export aus Ostpreussen bekannt. Das alles kann man sich im Stadtmuseum von Sowjetsk für 60 Rubel Eintritt (umgerechnet rund 90 Rappen) von einer Museumsführerin auf Russisch und auch auf Deutsch erklären lassen. Dazu gibt es in Schaukästen alte Fotos prächtiger Käsekeller und vergilbte Etiketten der damaligen Tilsiter-Laibe.
Diese Geschichte ist auch Iwan Iwanowitsch Artjuch wichtig. «Es ist die Geschichte des Tilsiters, die mich auf die Idee des Käseherstellens gebracht hat», erzählt der Käsereigründer später am Telefon. Angefangen habe alles 2014 mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, beginnt Artjuch seine Gründergeschichte. «Die EU verhängte ein Embargo gegen Russland, alle bliesen Trübsal, ich aber dachte, jede Krise biete auch eine Chance, und kaufte das historische Gasthaus von Neman», erzählt er. Der junge Geschäftsmann betreibt in der rund 100 Kilometer südlich gelegenen Oblast-Hauptstadt Kaliningrad mehrere Grosswäschereien. 2015 stieg er mit dem «Deutschen Haus» ins Gastgewerbe ein. Er renovierte das Gebäude, eröffnete das Restaurant wieder und dazu ein kleines Hotel.


Das Städtchen Neman, wo heute Schweizer Käse produziert wird, rüstet sich für bessere Zeiten. (Foto: Paul Flückiger)

Käse-Experimente im Keller

2016 habe der junge Patron zusammen mit dem Servierpersonal im Keller des Restaurants mit dem «Käsemachen» begonnen, hatte die Technikerin nach langem Bohren nach dem Rundgang in Neman erzählt. Sie hätten mit einem italienischen Halbhartkäse angefangen. Es sei zwar schwierig gewesen, aber dank Internet und Exkursionen des Chefs sei es dann irgendwie doch gelungen, am Ende einen essbaren Käse herzustellen.
«Es war ein Learning by Doing, aber ich gebe so schnell eben nicht auf», präzisiert Artjuch nun am Telefon. Dann erzählt er von seinen Schweizer Freunden in Montreux, die ihn immer wieder zu Käsereien gefahren und Treffen mit Käsern arrangiert hätten. Inzwischen hat Artjuch aus der Schweiz ein grösseres Käsekessi geschenkt bekommen, und er baut nun eine neue Kleinkäserei. Von 900 will er auf 1500 Kilogramm Milch kommen, eigenes Land pachten und eigene Kühe anschaffen. Die gelieferte Milchqualität passt ihm nämlich nicht, und der Milchpreis sei zu hoch. Zu schaffen macht ihm auch das russische Silofutter in den Wintermonaten.
«Ich will das Futter der Kühe selber kontrollieren, damit mein Käse noch besser wird», begründet der junge russische Käser, dem Gourmet-Touristenausflüge in seine neue Käserei vorschweben, gerne auch für Gäste aus Deutschland oder sogar aus der Schweiz. Vielleicht könne er in seiner neuen Käserei ja sogar seinen Schweizer Lieblingskäse, den Gruyère, herstellen, träumt er. Dann gesteht er aber auch eine kleine Niederlage ein: «Mein Ur-Tilsiter, hergestellt nach einer über 100-jährigen Rezeptur, ist für russische Gaumen leider kaum verträglich.» Deshalb habe er eine bekömmlichere Version finden müssen. Diese komme der heutigen Schweizer Version nun aber sehr nahe, hätten ihm Besucher bestätigt.
Iwan Iwanowitsch, wie ihn seine fünf Angestellten fast zärtlich nennen, erzählt dies alles am Rande von Käse-Lieferverhandlungen in Moskau. Dorthin exportiert er schon heute die Hälfte seiner Tilsiter-Produktion – in Kühllastwagen aus der russischen Exklave durch Litauen und Weissrussland. Sein Käse ist für Kaliningrad nämlich etwas teuer, auch wenn er hervorragend schmeckt.

Diese Reportage ist am 28.3.2019 in der NZZ erschienen. 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

  Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt. Von Paul Flückiger Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger. Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prac

Tschernobyl - die groesste Atomkatastrophe und ihre Folgen

Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen AKW Tschernobyl zur bisher grössten zivilen Atomkatastrophe. Bei einem Sicherheitsexperiment war es im Vierten Reaktorblock zur Explosion gekommen. Dabei gelangten hoch radioaktive langlebige Isotope wie Strontium-90 und Cäsium-137 in die Athmosphäre. Text und Fotos: Paul Flückiger Leben am Rande der Todeszone Die gerade herrschenden Nordwinde trugen diese vor allem nach Weissrussland , wo infolge der von der Moskauer Sowjetführung künstlich erzeugten Regenfälle zu 72 Prozent auf dem Gebiet der Weissrussischen SSR niedergingen. Derweil liessen die Sowjetbehörden die einfache Bevölkerung tagelang im Ungewissen über das Ausmass der Katastrophe. Von Tschernobyl selbst und der nahen Stadt Pripjat wurden die Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag zwangsweise evakuiert. Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In der Folge wurden in einem Umkre

Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 gef ü hrt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell.  - Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Le