Eine sowjetische Soldatin, die 1945 in Berlin einmarschierte. |
Tamara
Lebedewa, Soldatin, war neunzehn, als sie mit der Roten Armee in Berlin
einmarschierte. Heute befehligt sie einen Veteranenchor.
Paul Flückiger, Tiraspol (2005)
«Die Deutschen sind ein ehrliches und arbeitsames Volk,
ein Kulturvolk - ganz anders als unsere russischen Iwans», sagt Tamara
Lebedewa. Sie spricht mit fester Stimme und hält sich dabei auch heute noch
aufrecht wie ein Stock. Nein, die einfachen Bürger Nazi-Deutschlands seien
nicht schuld am Krieg gewesen, sagt die bald 80-jährige Kriegsveteranin.
Ihre Lebensgeschichte liesse anderes erwarten: 1942,
wenige Monate nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, verliert sie
Vater und Bruder durch eine Bombe. Die Fünfzehnjährige meldet sich als
Freiwillige bei der Roten Armee in Leningrad. Ihre Motivation: Rache. «Ich war
zu jung, zu klein, hatte nicht einmal einen Pass», erinnert sich Tamara
Lebedewa, die «Tara» genannt werden will - hart, wie damals im Krieg, an dem
sie als Verbindungssoldatin teilgenommen hat.
An der Kalinin- Front, in Kursk, Moskau und Berlin hat
sie gekämpft. «Es war so schrecklich; ich kann das noch heute nicht in Worte
fassen», sagt sie und zupft ihre grüne Uniformjacke mit den vielen Orden
zurecht, die mindestens zwei Nummern zu gross um den sehnigen Körper
schlottert. Diesen hier, den Roten Stern, sagt Tara, habe sie für einen Einsatz
in einem brennenden Panzer bekommen. Im Frühling 1945 irgendwo vor Berlin war
das. Tara rettete das wertvolle Funkgerät. Und bezahlt ihren Einsatz heute noch
mit ihrer Gesundheit.
Dreimal wurde sie verwundet. «Wollen Sie's sehen?»,
fragt Tara und krempelt ihre dicken Wollstrümpfe herunter. Endlich hat sie sich
auf das abgeschabte Sofa gesetzt, in ihrer kleinen Wohnung in Tiraspol,
der Hauptstadt der selbst proklamierten Transnistrischen Moldaurepublik. Im Eck
steht ein Schwarzweiss-Fernseher, gegenüber eine Kommode aus den sowjetischen
60er Jahren. Darüber, an der Wand, ein Porträt von ihr als junger Soldatin mit
einer roten Schleife.
Von Haus zu Haus hätten sie sich ins Zentrum von
Berlin vorgekämpft, erzählt Tara. Bis - endlich! - am 2. Mai auf dem Deutschen
Reichstag die sowjetische Flagge gehisst wurde. Tamara Lebedewa war dabei. «Ich
bin auf die Knie gefallen und habe den Boden geküsst», sagt sie. «Wir haben
einfach nur geweint. Geweint, weil wir so lange marschiert waren, so viel
durchgemacht und so viel verloren hatten. Weil unser Land zerstört und unsere
Angehörigen getötet worden waren», sagt die Veteranin und kämpft 60 Jahre
danach immer noch mit den Tränen.
Als am 2. Mai auf dem Deutschen Reichstag die sowjetische Flagge gehisst wurde, war Tamara Lebedewa dabei. «Ich bin auf die Knie gefallen und habe den Boden geküsst» |
Das Leben meinte es nicht gut mit Tamara Lebedewa.
Drei Jahre nach dem Krieg folgte sie ihrem Mann aus dem Ural
nach Tiraspol. Doch kaum war das erste Kind auf der Welt, liess er sie im
Stich und setzte sich nach Sibirien ab. Tara schlug sich 20 Jahre lang als
Kellnerin durch. Erst 1968 liess sie einen Geheimdienstoffizier im Ruhestand
ihr Herz erobern. «Durch ihn habe ich nach all dem Leid des Krieges und der
Einsamkeit wieder leben gelernt», sagt sie, und ihre Augen beginnen zu
leuchten. Seit seinem Tod vor 15 Jahren ist sie wieder allein. Ihr Sohn lebt in
Moskau, der Stiefsohn in der Ukraine. In Transnistrien, dem von der
internationalen Gemeinschaft nicht anerkannten Staat, der neben Russland und
Weissrussland als einziger halbwegs glaubhaft vorgibt, das Erbe der grossen
Sowjetunion aufrechtzuerhalten, sehen die beiden keine Zukunft.
Dabei haben Mutter und Sohn zusammen noch einmal an
der Front gestanden. In Dubassary war das, im Jahr 1992, und der Feind stand
diesmal auf der andern Seite des Dnjestr, in Chisinau, der Hauptstadt der seit
1991 unabhängigen Moldau. Dafür hat sie später den Orden «Verteidigerin
Transnistriens» bekommen. «Mein Gott! Und ich dachte, es gäbe nie wieder
Krieg!», bricht es aus ihr heraus. Bei der in Tiraspol stationierten
14. Russischen Armee hatte sie sich damals Maschinengewehre, Granaten und
Pistolen organisiert. Tara erzählt nun fast vergnügt von den Abenteuern ihres
zweiten Krieges. Man habe sie bereits aufs Abstellgleis stellen wollen, aber
sie habe schon gezeigt, dass sie noch schiessen könne.
Damit ist es nun vorbei. Tara hat ihr Leben heute ganz
auf die Anliegen der etwas über 100 Weltkriegsveteranen
in Tiraspol gerichtet. Sie singt im Veteranenchor und amtet als
Zeremonienmeisterin bei Geburtstagsfeiern und Beerdigungen. «In letzter Zeit
sterben sie weg wie die Fliegen», sagt sie trocken. Nach dem 9. Mai würde es
wie nach jedem Jahrestag wieder besonders viele dahinraffen, fürchtet Tara.
«Wegen all des Schreckens, an den sie sich an diesem Tag erinnern.» Dennoch
bereitet sie mit grosser Hingabe den Umzug in Tiraspol mit vor.
Einmal noch will sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Dieser Text ist am 8. Mai 2005 in der NZZ am Sonntag erschienen.
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