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Mit Witz und Liedern gegen Lukaschenko

 

Minsk Belarus Lukaschenko Musik Proteste 2020
In den Minsker Innenhöfen wird gerade eine Bürgergesellschaft geboren

Die Abfalleimer aus Gussbeton rund um den Kinderspielplatz sind weiss-rot-weiss angepinselt. Ein kleines Zeichen des Widerstandes gegen das Regime zwischen Hochhäusern im westlichen Minsker Stadtteil Kamennaja Gorka. Die fünf riesigen Wohnblocks wurden alle vor rund zehn Jahren gebaut. In der Nachbarschaft ist grosses Bürohaus, in dem sich auch westliche IT-Firmen eingemietet haben, das dem Quartier seine informellen englisch-sprachigen Namen gegeben hat. Doch nun wird der Innenhof neu getauft – und zwar auf Weissrussisch: «Kwartal der Solidarität», Solidaritätsquartier, heisst es nun in roten Lettern auf weissem Grund an einem Transformatorhäuschen. Jemand hat darunter ein Graffito der beiden Minsker DJs aufgesprüht, die es kurz vor den Präsidentschaftswahlen gewagt hatten, auf einer Veranstaltung für den Amtsinhaber statt einer vorgesehenen Hymne den sowjetischen Rocksong «Peremen» (Wende) von Wiktor Tsoi aufzulegen. Die beiden vom Staat angestellten DJs kamen wegen Hooliganismus ins Gefängnis. Und wurden so zu den ersten Helden des weissrussischen Volksaufstands. 

Verbotene Weiss-Rot-Weisse Fahnen wehen über Minsk

Die sowjetische Rocklegende Tsoi und die Farben Weiss-Rot-Weiss bringen nun im «Solidaritätsquartier» die Generationen zusammen. Dazu kommen auch Luftballons in den Farben der oppositionellen, vom Autokraten Alexander Lukaschenko verbotenen Landesflagge, was den vielen Kindern gefällt. Die Leute haben Tee und Glühwein in Thermoskannen in den Innenhof gebracht, dazu Gebäck. «Es ist das erste Mal, dass wir uns zu so einem lockeren Plausch treffen, bisher kannte ich meine Nachbarn kaum», sagt ein junger IT-Fachmann. Zu den Demonstrationen gehen weder er noch seine Ehefrau. Noch beschränkt sich ihr Wiederstand und Veränderungsdrang auf den Innenhof. Doch dies ist viel in Weissrussland, dessen 9,5 Millionen Einwohner von Angst zerfressen, 26 Jahre lang den Sowjetnostalgiker Lukaschenko schweigend ertragen haben. Zu den Wahlen seien sie früher einfach nicht hingegangen, so wie zuvor ihre Eltern in der Sowjetunion, sagen die beiden. «Wenn meiner engsten Familie Böses geschieht, erst dann gehen auch ich auf die Strasse», sagt die Frau. «Dann hält mich nichts mehr zurück und meine Angst weg», schätzt sie.  

    


Die neusten Entwicklungen in Minsk zeigen, dass gerade dies nun beginnt. Das Regime war an den beiden letzten Samstagen in der Innenstadt massiv gegen die friedlichen Frauenproteste vorgegangen. Alleine in Minsk wurden rund insgesamt rund 400 Frauen teils brutal festgenommen, Dutzende geschlagen, Hunderte öffentlich erniedrigt. Provoziert hat das Regime damit jedoch nun abendliche dezentralisierte Kleindemonstrationen zwischen den gesichtslosen Wohnblocks. Bereits am vergangenen Mittwoch waren es so viele, dass Lukaschenkos Einsatzkräfte sie an vielen Orten der Zwei-Millionenstadt gewähren liessen. Solche lokalen Märsche sind unspektakulär für die Medien, doch sie integrieren wie ein Quartierfest. Und dies in einem Land, in dem bisher fast alles von oben organsiert wurde.   

Vergleich mit dem Maidan in Kiev?

Derweil konzentriert sich das Hauptinteresse auf die Teilnehmerzahl der sonntäglichen Grossdemonstration. In Kiew wurde der Maidan 2013/4 erst dann zu einer Gefahr für die Machthaber, als Sonntag für Sonntag immer mehr Bürger hinfuhren, viele aus anderen Landesteilen. In Minsk nimmt die Teilnahme an den Protestmärschen trotz massiver Repressionen immerhin nicht ab.   

Der nächste Schritt jedoch wären Risse in Lukaschenkos Machtbasis. In Weissrussland ist kein so einflussreicher ex-Minister wie Petro Poroschenko auszumachen, der plötzlich die Seiten wechselt. Der ehemalige Kulturminister und Botschafter Pawel Latuschko erscheint dagegen nicht als politisches Schwergewicht, zumal auch er nun wie die informelle Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im Exil weilt. Dass auch Latuschko gewaltig störte, zeigen jedoch die Drohungen des Regimes gegen ihn. Im Internet tauschen dazu immer wieder Aufnahmen von Sicherheitskräften auf, die aus Protest ihre Uniformen verbrennen. Sogar Staatsanwälte haben gekündigt. Noch sind es indes Einzelfälle, die noch keinen Frühling machen.   

  


Die Opposition wiederum mag vielen, vor allem ausländischen Experten zwar als führungslos erscheinen, doch ihre Forderungen sind dennoch seit Anfang der Proteste klar und immer die Gleichen: Lukaschenkos Verzicht auf eine erneute Amtszeit, freie und faire Neuwahlen, ein Dialog der Machtstrukturen mit Tichanowskajas «Koordinationsrat» und die Freilassung aller politischer Gefangener. Dazu kommt, dass die Opposition ihre Machtdemonstrationen auf der Strasse auch ohne Führung ganz gut hinkriegt, und dies landesweit. 

Der bekannte Minsker Rocksänger Pit Palau will den Leuten Mut machen 

Geradezu ausgelassen ist inzwischen die Stimmung im Minsker «Quartier der Solidarität» in Kamennaja Gora geworden. Das rührige Organisationskomitee hat den bekannten Minsker Rocksänger Pit Palau für ein akustisches Konzert vor dem Transformatorhäuschen gewonnen. Palau trägt mit krächzender Stimme die weissrussischsprachige Revolutionshymne «Drei Schildkröten» seiner alten Band N.R.M., was soviel bedeutet wie «Unabhängige Republik der Träume», vor. Die rund 300 versammelten Nachbarn singen mit, die tiefen Stimmen die Männer, die hohen die Frauen. Sie singen korrekt, obwohl sie wie fast alle Weissrussen im Alltag nur russisch sprechen. Palau tritt inzwischen bis zu dreimal täglich in Innenhöfen auf, gibt ein Dutzend Konzerte die Woche. „Ich will den Leuten Mut machen, und zeigen, dass sie nicht alleine sind“, begründet er. Die «Unabhängige Republik der Träume» erscheint plötzlich greifbar nahe, doch der zum Revolutionsbarden mutierte Rockstar warnte  noch kurz vor dem Auftritt im Gespräch: „Europa muss nun endlich wirklich mit Lukaschenko und auch Putin brechen, keinerlei Verhandlungen über unsere Köpfe hinweg!“. Kaum ist das Konzert gespielt und die letzten Selfies, raunt Palau dem Berichterstatter ins Ohr: «Und nun bloss weg hier! Ich fürchte Lukaschenkos Rache, ich will nicht Weissrusslands Victor Jara werden». Der chilenische Barde starb 1973 beim Militärputsch von General Augusto Pinochet einen grausamen Tod.

Paul Flückiger (Text und Photos)

Minsk   

Reportage

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