Direkt zum Hauptbereich

Die ukrainischen Häfen im Asowschen Meer stecken im russischen Würgegriff fest



Fischerhafen von Berdjansk. Ukraine, Krieg Russland, Krim. Fot. Paul Flückiger
Fischerhafen von Berdjansk. Fot. Paul Flückiger

Seit dem Bau einer Brücke auf die Krim nehmen die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine zu. Leidtragende sind die Häfen – sie üben sich in Zweckoptimismus.

Paul Flückiger, Mariupol und Berdjansk

Ausgerechnet auf den Namen «Peace» getauft ist der Frachter, der am frühen Morgen im Hafen von Mariupol eingelaufen ist. «Die russischen Grenzschützer waren freundlich, aber wir mussten drei Tage auf sie warten», erzählt Niko, der dritte Schiffsoffizier. Der im bulgarischen Burgas gemeldete 15 000-Tonnen-Frachter hat Tonerde aus der Türkei in die Ukraine gebracht, die gerade mit grossen Baggerkränen auf Eisenbahnwagen umgeladen wird. Sobald die Ladung gelöscht ist, fährt der Frachter auf die andere Hafenseite und lädt Metallplatten, die nach Italien müssen. Hatte er keine Bedenken wegen des Krieges, der 15 Kilometer östlich täglich Opfer fordert? «Keineswegs», sagt Niko, der wie ein Grossteil der Besatzung aus den Philippinen stammt, «Putin und mein Präsident sind gute Freunde.»

Hohe Kosten

Ganz anders sieht es für die Ukraine aus. Bis zu 15 000 Dollar koste ein Tag Wartezeit bei Kertsch, rechnet Aleksandr Oleinik vor, der Hafendirektor von Mariupol. Mindestens drei Tage dauere heute die Wartezeit allein bei der Einfahrt, in Extremfällen bis zu sieben. Bevor Russland mit dem Bau der Brücke auf die besetzte Krim begann, hatte die Verzögerung weniger als einen halben Tag gedauert. Dieselbe Warterei kommt noch einmal bei der Ausfahrt. «Das bedeutet einen grossen Verlust für den Schiffseigentümer», rechnet Oleinik vor. «Solch lange Wartezeiten diskreditieren die ukrainischen Häfen am Asowschen Meer», glaubt der Direktor. Die Folgen – Arbeitsplatzabbau und soziale Probleme – seien von Russland intendiert.


«Zuerst kam 2014 der Krieg – und nun die nur 33 Meter über dem Meeresspiegel hängende russische Brücke vom Festland auf die Krim», fasst Oleinik in seinem Büro über dem Hafen zusammen. Grössere Schiffe können sie nicht mehr passieren; verglichen mit 2013 hat sich der Güterumschlag halbiert. Ein für Herbst 2019 geplantes modernes Getreideterminal sollte diese Ausfälle wettmachen. Doch die Brücke bei Kertsch durchkreuzt nun auch diese Pläne. «Wenn wir ökonomisch handeln würden, müssten wir Leute entlassen», sagt Oleinik. Stattdessen habe der Hafen Kurzarbeit eingeführt, die Belegschaft von 3800 Personen aber behalten. In Berdjansk, wo der Hochseehafen der bei weitem grösste Arbeitgeber ist, werden die ersten paar hundert der rund 2000 Angestellten gerade entlassen.

Laut einem Abkommen zwischen Russland und der Ukraine aus dem Jahr 2003 gilt das Asowsche Meer als Binnengewässer. Ihre Schiffe haben das Recht, bis vor die jeweilige Küste zu schwimmen, und beide Staaten können überall Boote kontrollieren. Gebrauch davon macht primär der russische Grenzschutz, der Handelsschiffe aus aller Herren Ländern festsetzt. Über 200 von ihnen haben die Russen, offiziell aus Sicherheitsgründen, seit der Eröffnung der Krim-Brücke im Mai angehalten, um Mannschaft und Ladung zu kontrollieren.

In der rund 70 Kilometer westlich von Mariupol gelegenen ukrainischen Hafenstadt Berdjansk kann man russische Grenzschutzboote und die angeblich zum Schutz der Brücke verlegten Kriegsschiffe von der Küste aus beobachten. Der Kontrollpunkt, weit entfernt von der russischen Küste, scheint ideal für jeden, der den Verkehr stören will. Nur wenige Kilometer vor der Hafeneinfahrt nämlich zweigt die Fahrrinne für Handelsschiffe nach Mariupol ab. Diese erlaubt es Hochseeschiffen von maximal acht Metern Tiefgang, sich in dem flachsten Meer der Welt sicher zum Zielhafen zu bewegen.

Zunehmende Konflikte

Die erhöhte russische Präsenz im Asowschen Meer hat in den vergangenen Monaten zu einer Verlegung ukrainischer Sicherheitskräfte geführt. Die Konflikte nehmen zu. Im März brachten ukrainische Grenzwächter den russischen Fischkutter «Nord» auf und schleppten ihn zu Abklärungen in den Hafen. Moskau antwortete mit der Festsetzung eines Fischkutters aus Berdjansk. Zwei Fischer befanden sich laut Bürgermeister Wladimir Tschepurnoi acht Monate lang in Gewahrsam.

Wladimir Tschepurnoi, Bürgermeister von Berdjansk. Fot. Paul Flückiger. Ukraine
Wladimir Tschepurnoi, Bürgermeister von Berdjansk. Fot. Paul
Flückiger
Die ukrainische Armee hat Berdjansk kürzlich zum Flottenstützpunkt auserkoren. Zwei fabrikneue kleine Kreuzer wurden inzwischen gewässert; dazu liessen die Russen einen Schlepper und das Rettungsschiff «Donbass» weitgehend ungehindert die 18 Kilometer lange, felsige Meerenge von Kertsch passieren. Seit dem 19. Jahrhundert seien alle Kriege vom Meer über Berdjansk hereingebrochen, erzählt Tschepurnoi im sowjetisch geprägten Rathaus. Helikopter donnern über die Stadt mit ihren 100 000 Einwohnern hinweg. Glücklicherweise habe Kiew das Ende der Touristensaison abgewartet, bevor es die ersten Einheiten stationierte, sagt Tschepurnoi. Er berichtet, dass diesen Sommer fünfmal so viele Touristen nach Berdjansk gekommen seien wie vor der Annexion der Krim.

Tschepurnoi ist stolz auf die Armeepräsenz in seiner Stadt. «Diese Marinebasis gibt uns nun Sicherheit.» Deshalb ist der Bürgermeister auch überzeugt, dass am Asowschen Meer kein zweites Krim-Szenario möglich ist. Diesmal sei die Ukraine gewappnet. Doch kann die Ukraine auch auf die wirtschaftliche Ausblutung der Asow-Region reagieren? Russland wolle mit der Asow-Blockade vielleicht die Wiederaufnahme der ukrainischen Wasserlieferungen an die besetzte Krim erzwingen, wird gemunkelt.

Schlechte Aussichten

Die Früchte der russischen Politik erntet Enver Tkitischwili jeden Tag. Der Ukrainer georgischer Abstammung ist seit 2010 Direktor von «Asowstal», einem der grössten Stahlwerke der Ukraine. Seine Eisenschmiede bildet zusammen mit der Stahlgiesserei «Iljitsch» das wirtschaftliche Rückgrat der Halbmillionenstadt Mariupol. Beide Kolosse gehören dem Oligarchen Rinat Achmetow. Noch 10 000 Arbeitsplätze bietet «Asowstal», welches laut dem Firmendirektor die Löhne dauernd anhebt. «Wir wollen zeigen, dass es sich lohnt, hierzubleiben und für die Ukraine zu arbeiten.» Allerdings musste auch seine Fabrik die Belegschaft seit 2014 um 2500 Arbeiter reduzieren. Das Werk arbeite noch mit 60 Prozent der Vorkriegskapazität, gesteht Tkitischwili im Gespräch ein.

Enver Tkitischwili, Direktor von «Asowstal». Fot. Paul Flückiger. Ukraine
Enver Tkitischwili, Direktor von «Asowstal».
Fot. Paul Flückiger
Beim Firmenrundgang ist dies auf Schritt und Tritt zu spüren. In der einzigen Eisenbahnschienen-Giesserei der Ukraine, die sich auf dem riesigen Firmenareal befindet, hantieren nur noch ein paar Arbeiter. Feuerrot gleiten ein paar wenige Metallteile aus dem Giesswerk. In der Lagerhalle stapeln sich die fertigen Schienen. Vor dem Krieg habe man oft nach Russland geliefert, heute würden lediglich noch kurze Zwischenstücke bestellt. «Nur was die Russen selbst nicht herstellen können, dürfen wir noch machen», klagt der Werkleiter.

Zurück im Bürotrakt, lässt Tkitischwili schnell durchblicken, dass der Hafen von Mariupol für ihn nur noch eine Notlösung ist. Der Direktor klagt über Engpässe bei der ukrainischen Eisenbahn, die man heute vermehrt nutze, um die Exportware zum Verschiffen nach Odessa zu schaffen. Viele Käufer wollten den Weg über den Hafen Mariupol nicht mehr riskieren, da die Lieferzeiten zu unsicher geworden seien. Russland blockiere das Asowsche Meer zwar nicht vollständig, doch die Häfen stürben einen langsamen Tod, sagt Anders Aslund am Rande des Yalta European Strategy Forum in Kiew. Der schwedische Ukraine-Kenner sitzt seit kurzem im Verwaltungsrat der ukrainischen Eisenbahn. Er schätzt, dass die beiden Stahlwerke in Mariupol zwei Drittel ihrer Produktion für den Export auf andere Schwarzmeerhäfen umleiteten. Hätte die Bahn im Donbass nicht so viel Rollmaterial verloren, wären es noch mehr.

Unterstützung aus Kiew

Die Regierung versichert, sie gebe die beiden Häfen am Asowschen Meer in keiner Weise auf, sondern unterstütze sie extra. Dank einer Verwaltungsreform müssen Städte wie Mariupol weniger Steuergeld an die Zentrale abführen, was indirekt die lokale Wirtschaft stärkt. Schulen und Spitäler werden renoviert, die Stadtverwaltung kauft gar Wohnungen, um Donbass-Flüchtlinge vor Ort zu halten. Die ukrainische Truppenstärke und Ausrüstung im Osten der Stadt ist ein wohlgehütetes Geheimnis, betont wird bei den Lokalbehörden eher die Zivilverteidigung durch Integration der Umsiedler aus den besetzten Teilen des Donbass. 

Bei der Fahrt durch die Innenstadt mit ihrem südländischen Flair kommt man an dem Anfang Mai 2014 ausgebrannten Stadtparlament vorbei. Prorussische Aktivisten hatten damals zum Aufstand gegen Kiew aufgerufen. Rund 30 Todesopfer forderten die Auseinandersetzungen, in deren Folge die Stadt gut einen Monat lang zur sogenannten Volksrepublik Donezk (DNR) gehörte. Dann wurde sie vom ukrainischen Freiwilligenbataillon «Asow» zurückerobert. Mitentscheidend dabei war, dass die lokalen Oligarchen, erschreckt von der Rechtlosigkeit, die Seite wechselten.

Hafen Mariupol und MS "Peace".Ukraine  Fot. Paul Flückiger
Hafen Mariupol und MS "Peace". Fot. Paul Flückiger

Ukraine als Angelpunkt

Aktivisten in Mariupol sind heute der Ansicht, dass die nur wenige Kilometer östlich gelegene DNR selbst viel dazu beigetragen habe, dass die Einwohner der ukrainischen Hafenstadt trotz Blockade zu Kiew halten. «Als hier die Separatisten regierten, herrschten Chaos und Angst; es kam zur Massenflucht», erinnert sich Wladislaw Saizew. Am helllichten Tage seien Autos requiriert und Bürger zusammengeschlagen worden. «Hier ist die russische Kultur vielen zwar sehr nah, doch zum Angelpunkt ist inzwischen die Ukraine geworden», glaubt der junge Stadtaktivist. Natürlich klagten ältere Bürger über Preiserhöhungen oder arrogante Politiker, natürlich sei Kiew unbeliebt, doch man habe gelernt, zwischen Staatsmacht und Heimat zu unterscheiden. Politiker könne man abwählen, ohne das Land zu wechseln.

Dann führt Saizew vom Treffpunkt in einem schicken Altstadtcafé ins Parterre eines Geschäftshauses. Ehemalige zivile Armeehelfer haben hier ihr Hauptquartier zu einem Bildungszentrum umgebaut. Wo vor vier Jahren noch Tarnnetze geknüpft wurden, finden sich heute Startups. Eine Aktivistin erzählt von den angstvollen Stunden, die sie in Mariupol nachts als junge Frau durchgestanden habe: Zuerst hatten bewaffnete prorussische Banden das Sagen, später kamen die «Asow»-Freiwilligen. Erst seitdem diese in die reguläre ukrainische Armee eingegliedert und östlich der Stadtgrenzen kaserniert worden seien, fühle sie sich sicher, erzählt sie. Oft hat sie, deren Mutter deutsche Wurzeln hat, an den Wegzug in die EU gedacht und sich doch dagegen entschieden: «Ich will hier auf unsere Zukunft Einfluss nehmen. Ich weiss, dass ich dies tun kann.»

Diese Reportage ist am 24.11.2018 in der NZZ erschienen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tschernobyl - die groesste Atomkatastrophe und ihre Folgen

Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen AKW Tschernobyl zur bisher grössten zivilen Atomkatastrophe. Bei einem Sicherheitsexperiment war es im Vierten Reaktorblock zur Explosion gekommen. Dabei gelangten hoch radioaktive langlebige Isotope wie Strontium-90 und Cäsium-137 in die Athmosphäre. Text und Fotos: Paul Flückiger Leben am Rande der Todeszone Die gerade herrschenden Nordwinde trugen diese vor allem nach Weissrussland , wo infolge der von der Moskauer Sowjetführung künstlich erzeugten Regenfälle zu 72 Prozent auf dem Gebiet der Weissrussischen SSR niedergingen. Derweil liessen die Sowjetbehörden die einfache Bevölkerung tagelang im Ungewissen über das Ausmass der Katastrophe. Von Tschernobyl selbst und der nahen Stadt Pripjat wurden die Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag zwangsweise evakuiert. Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In der Folge wurden in einem Umkre

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

  Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt. Von Paul Flückiger Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger. Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prac

Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 gef ü hrt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell.  - Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Le