Als viele dachten, Russland befinde sich auf dem Weg zur
Demokratie, wollte auch Swetlana Alexijewitsch
daran glauben. Nach den Aggressionen in der Ukraine und in Syrien ist die
Literaturnobelpreisträgerin ernüchtert. Der imperiale Traum sei in jedem Russen
lebendig.
Fot. Wikipedia.org
Interview: Paul Flückiger, Krakau
Paul Flückiger: Zuerst hat Russland die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert, dann mit der Aggression gegen die Ukraine im Donbass begonnen, und nun haben wir die Luftschläge in Syrien. Ist das Zusammenleben mit Russland in Frieden noch möglich?
Die Helden Ihrer
Bücher sind öfter Frauen als Männer. Und oft sind das sehr lebenstüchtige
Frauen. Weshalb sind die Frauen im postsowjetischen Raum so stark?
Fot. Wikipedia.org
Interview: Paul Flückiger, Krakau
Paul Flückiger: Zuerst hat Russland die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert, dann mit der Aggression gegen die Ukraine im Donbass begonnen, und nun haben wir die Luftschläge in Syrien. Ist das Zusammenleben mit Russland in Frieden noch möglich?
Swetlana Alexijewitsch*: Was Wladimir Putin in
Syrien macht, dass er nun diesen Streit vom Zaun bricht, hat niemand erwartet.
Aber aufgepasst, in der Ukraine ist es zwar ruhig geworden, aber dieser Krieg
ist noch nicht beendet, und er kann jederzeit zurückkehren. Das alles bedeutet,
dass die Welt in einer sehr schwierigen Situation ist.
Weshalb regt
sich dagegen in Russland kaum Widerstand?
Die
Intelligenzia befindet sich in einem Schockzustand, sie kann das alles nicht
verstehen. Und das Volk unterstützt leider tatsächlich Putin. Vor kurzem war
ich in Sibirien. Was ich dort erlebte, hat mich erstaunt. In den Städten trifft
man Leute, die Angst vor einem Krieg haben, aber sobald man an die Ränder der
ehemaligen Sowjetunion fährt, fürchtet sich niemand mehr vor dem Krieg. Alle
sind einfach glücklich, dass wir endlich wieder ein grosses Imperium sind, vor
dem die Welt wieder Angst hat.
Beginnt sich nun
eine neue Gewaltspirale zu drehen?
Das befürchte
ich. Gerade war ich in der Ukraine und habe mit Flüchtlingen gesprochen, die
ihre Häuser verlassen und wegfahren mussten. Nun wollen sie zurück in den
Donbass, um dort gegen die Russen zu kämpfen. Das kann man verstehen, aber für
mich ist Gewalt eine dunkle Macht. Niemand kann abschätzen, wie das alles enden
wird.
Was kann der
Westen tun? Halten Sie Sanktionen für den richtigen Weg?
Mit Sanktionen
zu antworten, ist eine eigenartige Entscheidung. Aber eine andere Variante
vermag ich nicht zu erkennen. Ausser Sanktionen sehe ich keine Möglichkeit,
denn wenn der Westen auch in den Waffengang einsteigt, haben wir den Dritten
Weltkrieg.
Bisher hat die
Geschichte jedoch gezeigt, dass die Russen bereit sind, für den Sieg ihrer Idee
zu hungern und zu sterben. Wie sollen da Sanktionen etwas bringen?
Das stimmt,
deshalb ist es auch mit den Sanktionen schwierig. 35 Prozent der Russen haben kürzlich
auf die Frage, ob sie bereit seien, für Putins Idee eines grossen Russland
selbst zu sterben oder Frau, Kinder und die Verwandten zu opfern, geantwortet: «Ja!»
Dies ist die Folge einer ideologischen Gehirnwäsche.
Sie beschäftigen
sich seit vielen Jahren mit den «roten Menschen». Mit dieser Metapher beschreiben
Sie die immer noch verbreitete Mentalität, die von der Sowjetideologie geprägt
wurde. Ist der kommunistische Kult um den «roten Menschen» schuld an der
jetzigen Entwicklung? Oder reicht dies alles viel tiefer zurück bis in den
russischen Imperialismus der Zarenzeit?
Der imperiale
Traum ist in jedem Russen lebendig. Der entscheidende Faktor ist hier aber tatsächlich
der «rote Mensch». In den neunziger Jahren dachten wir Demokratie-Aktivisten,
der Kommunismus sei weg, überwunden. Wir dachten, er würde nie mehr
auferstehen. Doch das stellte sich als Trugschluss heraus. Weshalb? Der «rote
Mensch» glaubte an grosse Ideale und an ein neues Leben. Für die neue,
demokratische Zeit gab es keinen intellektuellen Überbau. Bei Putin gibt es das
nun wieder. Zudem ist Putin dauernd im Fernsehen zu sehen, man zeigt, was er
tut und weshalb er das tut. Putin bietet den Menschen eine Erklärung,
bearbeitet sie, erläutert ihnen seine Weltsicht. Wir Demokraten hatten dies
alles unterlassen.
In Ihrem letzten
Buch, «Secondhand-Zeit», beschrieben Sie, wie schnell die Wende über die Bürger
der UdSSR hereinbrach und welche Traumata dies zur Folge hatte.
Das Volk wurde
beraubt. Es fühlt sich erniedrigt und betrogen. Die Menschen wurden aggressiv.
Ich konnte dies während meiner Reisen feststellen, die ich über Jahre hinweg für
dieses Buch unternahm. Damals dachte ich mir, dass das bestimmt schlimm enden
wird. Doch meine Freunde sagten: «Nein, wir sind doch auf dem demokratischen
Wege, alles wird gut sein.» Doch es kam anders.
Ist der Grund für
diese Aggression im «roten Menschen» verankert?
Klar! Alle haben
mir erzählt, dass sie früher im Sozialismus geachtet wurden. Auf der Arbeit, überall
wurde ihnen ideologisch eingetrichtert, dass der «rote Mensch» ein wichtiger
Mensch dieses Sowjetstaates sei.
Meinen Sie mit
dem «roten Menschen» das Gleiche wie der russische Dissident Alexander
Sinowjew, der vom Homo sovieticus sprach?
Ja, genau. Aber
mir gefällt das Wort Homo sovieticus nicht. Wissen Sie, mein Vater war ein überzeugter
Kommunist, alle meine Verwandten lebten in dieser Welt der «roten Menschen».
Der Ausdruck Homo sovieticus klingt kalt, so kann ich sie nicht benennen. Denn
sie sind alle einfach verloren, weil sie alle viel Tragisches in ihrem Leben
durchmachen mussten. Hinter jedem «roten Menschen» war hingegen eine schöne «rote
Idee», ein Ideal. Ich habe vier Jahrzehnte lang über diese Leute geschrieben -
wie sie lebten, wie sie litten, was sie dachten und wie das alles
zusammengebrochen ist.
Der «rote Mensch»
ist in Russland also nicht gestorben. Gilt das auch für die Ukraine nach der
Maidan-Revolution?
Der «rote Mensch»
bevölkert den ganzen postsowjetischen Raum. Es ist nicht so, dass sich das an
einem Tag ändert. Heute bist du ein Kommunist, und morgen legst du das alles ab
- das geht nicht. Die Leute wurden in diesem System erzogen. Alle haben
dieselben Bücher gelesen, haben das gelernt und sind mit diesen Idealen
aufgewachsen.
Ist das Ende des
«roten Menschen» eine Generationenfrage?
Die jungen
Ukrainer wollen natürlich ein?neues Leben. Sie wollen jetzt die Überwindung
dieser Zeit des «roten Menschen», vor allem nach all den Erzählungen ihrer
Freunde von den Maidan-Toten. Aber der Staat siegt noch nicht gegen die
Oligarchen, gegen diese Geissel. Der ukrainische Staatspräsident Petro
Poroschenko versucht das nun. Aber das ist sehr schwierig und sehr komplex. Der
Maidan hat vieles verändert. Zur Ehren-Allee der Maidan-Opfer in Kiew pilgern
verschiedene Leute, jeden Alters, auch Kommunisten, und sie sagen mit Stolz: «Ja,
wir sind bereit, dafür zu sterben, wir sind dafür gestorben, wir wollen ein
anderes Leben, wir wollen in Freiheit leben!»
Sind Sie
optimistisch, dass dies der Ukraine gelingen wird?
Der Wille ist
da, aber die internationale Staatengemeinschaft muss der Ukraine dabei helfen,
so gut es geht. Die Ukraine gewinnt diesen Krieg, wenn sie beginnt, wirklich
besser zu leben. Das ist viel mehr wert als ein militärischer Sieg gegen die
Russen.
Wann haben Sie
den «roten Menschen» in sich überwunden? Wie haben Sie sich befreit?
Bei mir ist dies
während des sowjetischen Afghanistankriegs [1979 bis 1989, Anmerkung der
Redaktion] geschehen. Für mich starb dort die Idee des Sozialismus. Mein Vater
war Schuldirektor, ein Lehrer. Er glaubte sehr an all diese Ideale und hat
mich?in diesem Sinne erzogen. Er und seine Freunde waren gute Menschen,
einfache Leute. Sie waren glaubwürdig. Für mich war die Verabschiedung von
diesen Idealen ein schwieriger, sehr langer Prozess.
Gibt es ein
einschneidendes Erlebnis?
Als ich das Buch
«Zinkjungen» über den Afghanistankrieg schrieb, bin ich dort hingefahren und
habe mit eigenen Augen gesehen, was russische Soldaten Schlimmes tun. In einem
Spital habe ich Kinder und Frauen ohne Beine gesehen. Ich habe einer Frau ein
Spielzeug gegeben, sie hatte ein Kind an der Brust. Dann habe ich gemerkt, dass
es weder Händchen noch Beinchen hatte. Ich war so schockiert! Sie sagte mir: «Das
haben deine Russen gemacht! Die sowjetischen Hitlerfaschisten!» Das ist eine
der Episoden, die mich zur Selbstbefreiung getrieben haben. Nachdem ich dieses
Buch geschrieben hatte, war ich vollständig befreit.
Die Männer verstehen
nur, Kriege zu führen. Das ganze Land haben schon immer die Frauen getragen,
die Kinder haben sie grösstenteils alleine aufgezogen. Nach der Wende sind die
Männer sitzen geblieben und haben darüber geklagt, dass sie die Arbeit verloren
haben. Die Frauen aber haben etwas Neues gelernt und die Familien am Leben
erhalten. Sie sind mit diesen farbigen Taschen durch die ganze Welt gefahren,
haben Waren getauscht, verkauft und als Händlerinnen Geld verdient.
Hat der Kult des
«roten Menschen» die Frauen in Russland so stark gemacht?
Nein, die Frauen
waren immer stärker. Das ist mir klargeworden, als ich mein Buch, «Der Krieg
hat kein weibliches Gesicht», über Sowjetfrauen im Zweiten Weltkrieg schrieb.
Millionen von Frauen zogen bei uns in den Krieg und starben. Millionen! Das ist
einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Ja, die russische Frau ist ein sehr
starker Mensch!
Ihr nächstes
Buch handelt von der Liebe. Ist diese im postsowjetischen Raum denn anders als
bei uns im Westen?
Ich weiss es
nicht, ich hab es noch nicht herausgefunden, ich habe nicht lang genug bei euch
gelebt [lächelt]. Ich habe mich weit über dreissig Jahre mit dem «roten
Menschen» befasst und darüber eine Enzyklopädie aus fünf Büchern geschrieben.
Nun habe ich entschieden, mich existenziellen Themen zuzuwenden, das heisst der
Liebe und dem Tod. Doch zum Wesentlichen vorzudringen, ist sehr schwierig. Bei
euch ist das Leben ein anderes. Natürlich gibt es Gemeinsames: Überall weinen
die Frauen, wenn sie betrogen und verlassen werden.
Was lernen wir
in diesem neuen Buch über die Russen, die Ukrainer und die Weissrussen?
Ich weiss es
noch nicht. Im Moment sammle ich erst das Material, und ich kann nur sagen,
dass es mir sehr schwerfällt, dieses Buch zu schreiben.
Könnte dieser
Nobelpreis Ihre Arbeit zusätzlich erschweren? Wenn Sie so berühmt sind, könnte
Ihre Unmittelbarkeit im Kontakt mit den Menschen abhandenkommen.
Ich hoffe sehr,
dass das nicht eintrifft. Ich bekam ja schon früher mehrere wichtige
internationale Auszeichnungen. Wenn ich zu den Leuten gehe, gehe ich nicht als
grosse Schriftstellerin, sondern immer als einfacher Mensch, der sich
unterhalten und etwas erfahren will, nicht nur über den Krieg, sondern vor
allem über das Leben.
Seit kurzem
leben Sie wieder in Minsk.
Sobald es möglich
war, bin ich aus dem Exil zurückgekehrt. Alexander Lukaschenko hat wieder damit
begonnen, mit dem Westen zu spielen. Dadurch wurde es in Weissrussland etwas
leichter.
Waren Sie der
Freiheit überdrüssig? Fehlte Ihnen die Diktatur? Ist ein Autoritarismus, wie
ihn Lukaschenko pflegt, Ihrer Literatur gar indirekt förderlich?
Nein, ich
brauche keine Diktatur. Aber ich sehnte mich immer nach Hause, ich wollte nie
in Westeuropa bleiben. Und mein literarisches Genre verlangt danach, mit den
Leuten zusammenzuleben, täglich mit ihnen zu sprechen, mit ihnen zu feiern und
zu tanzen.
Welches Ziel
verfolgen Sie mit Ihrer Literatur? Wollen Sie etwas verändern?
Ich will darüber
schreiben, wer wir waren und was mit uns passierte. Ich will von dieser
schrecklichen Erfahrung erzählen. Denn die Idee des Kommunismus ist nicht tot.
Sie lebt weiter. Und ich will zeigen, wie diese Idee nun in Russland umgesetzt
wird und was sie bewirkt.
(Dieses Interwiew ist in der NZZ am
Sonntag, am 25. 10. 2015, erschienen)
* SWETLANA ALEXIJEWITSCH trägt die dramatische Geschichte der Sowjetunion tief in sich. Sie wurde kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, im westukrainischen Iwano-Frankiwsk als
Tochter eines Weissrussen und einer Ukrainerin geboren, schreibt und spricht
aber russisch. Zusammen mit zwei Geschwistern wuchs sie in einfachen
Verhältnissen in einem ukrainischen Dorf auf. Ihr Vater war Lehrer, erzogen
wurde sie vor allem von ihrer ukrainischen Grossmutter.
Erst zum Journalistikstudium zog Alexijewitsch nach Minsk, in die Hauptstadt der
damaligen Weissrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR). Sie arbeitete
zuerst als Reporterin bei Zeitschriften. 1983 begann sie ihre monumentale
Enzyklopädie des sowjetischen Alltags, die mehrere Bücher umfasst. Dafür hat
sie Hunderte von Gesprächen vor allem mit einfachen Bürgern geführt. Nur
vereinzelt und meist anonymisiert kommen die Entscheidungsträger des Kremls zu
Wort. Die mit viel Empathie gewonnen Lebensbeichten hat Alexijewitsch
zu polyfonen Erzählungen verdichtet, bei denen jeder mit all seinen Widersprüchen
zu Wort kommen darf. Auf Deutsch sind unter anderem erschienen: «Der Krieg hat
kein weibliches Gesicht» (1985), «Zinkjungen. Afghanistan und seine Folgen»
(1989), «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft» (1997), «Die letzten Zeugen.
Kinder im Zweiten Weltkrieg» und ihr bisher grösstes Werk, «Secondhand-Zeit.
Leben auf den Trümmern des Sozialismus» (2013). Gegenwärtig arbeitet sie
zeitgleich je an einem Buch über die Liebe und über den Tod.
Sie ist die erste weissrussische
Nobelpreisträgerin, doch ihre Bücher müssen im Ausland erscheinen. Denn die
Demokratie- Aktivistin der späten Sowjetzeit gilt heute als eine der schärfsten
Kritikerinnen des Autokraten Alexander Lukaschenko. Im Jahr 2000 verliess Alexijewitsch Weissrussland und begab sich ins Exil.
Sie lebte während rund zehn Jahren in Deutschland, Frankreich, Italien und
Schweden. Mittlerweile wohnt sie wieder in Minsk. (flü.)
8Mio. schwedische Kronen oder umgerechnet rund 920 000 Franken bekam Swetlana Alexijewitsch, als sie am 8. Oktober mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Durch die höhere Verkaufszahlen ihrer Bücher kommen weitere Einnahmen hinzu.
500 Tonbandprotokolle hat Alexijewitsch für ihr Buch «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» über die Schicksale sowjetischer Frauen angelegt. Zur Vorbereitung führt sie jeweils viele Interviews mit Zeitzeugen, vor allem mit einfachen Leuten.
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