Vor 11 Jahren ist der "polnische" Papst Johannes Paul II gestorben. Hier eine Glosse, die damals in der NZZ erschienen ist.
Fot. Dzielo.pl
In
der Schule wurde ich an jenem Tag mit den Leistungen Lenins und seiner
Revolution bekannt gemacht. Auf dem Weg nach Hause habe ich Kastanien
gesammelt. Die Menschen, die an mir vorbeigingen, hatten glückliche Gesichter.
Alles andere als fröhlich war aber die Miene des Ansagers im Fernsehen, als er
in den Abendnachrichten über die Wahl eines neuen Papstes informiert hat. Des
polnischen Papstes! Es war der 16. Oktober 1978.
«Wie
viele Divisionen hat der Papst?», fragte Stalin einst spöttisch. Die Ära
Johannes Pauls II. zeigte die Kraft der päpstlichen «Truppen», die ohne Waffen
die Welt verändert haben. «Möge der Heilige Geist herabsteigen und das Gesicht
dieses Landes verändern», erbat der Papst während seiner ersten Pilgerschaft
nach Polen im Juni 1979. Ein Jahr später entstand die erste freie Gewerkschaft
in den kommunistischen Ländern: die Solidarnosc. Die Polen hatten keine Angst
mehr, sich für ihre Ideen und Ideale einzusetzen.
«Wir
alle leben in einer Epoche der Eurokraten; Staatsmänner wie de Gaulle oder
Adenauer sind längst ausgestorben. Der einzige grosse Mann dieser Welt bleibt
der Papst», sagte mir 1995
in einem Gespraech für eine Schweizer Zeitung Andrzej
Szczypiorski, einer der bekanntesten polnischen Nachkriegsautoren. Der
Redaktor, der den Text redigierte, rief mich damals an und fragte, ob ich mich
nicht geirrt hätte, ob Szczypiorski wirklich so etwas gesagt habe: «Der einzige
grosse Mann dieser Welt bleibt der Papst»?! Beide waren wir erstaunt - der
Redaktor über diesen Satz, und ich über seine Frage.
Es
ist nicht einfach zu erklären, was uns Polen mit diesem Papst verband. Wir haben
Johannes Paul II. nicht deswegen geachtet, weil er ein Pole war. Vielleicht
aber, da er ein Pole war, hörten wir ihm öfter und besser zu. Während seiner
Pilgerschaften nach Polen baten wir ihn immer mit denselben Worten: «Bleibe bei
uns!» Nur seine Lehre und das Vorbild seines Lebens sind geblieben. Wie lange?
Dies hängt jetzt von uns ab. Wir gehören der Generation Johannes Pauls II. an.
«Die
Slawen leiden gerne», bekam ich manchmal in der Schweiz zu hören. Aber wir
leiden heute nicht. Ja, wir sind traurig und nachdenklich. Unter der Trauer
verbergen sich jedoch Fröhlichkeit und Dankbarkeit - für ihn, sein Leben und
Werk. Beides dringt langsam durch. Hoffentlich bleibt auch das Gefühl der
Solidarität - so wie es nach 1979 blieb. In Polen findet nun die letzte
Pilgerschaft des Papstes in seine Heimat statt. Für viele von uns war er ein
«Geschenk Gottes». Und die Tage nach seinem Tod öffneten uns die Augen und
Herzen.
Verfeindete
Fussballmannschaften und ihre gewalttätigen Fans nehmen im Stadion, Arm in Arm,
am Gottesdienst für den verstorbenen Papst teil. Die Juden und Muslime beten
gemeinsam mit den Christen. Die Politiker schweigen, und mein Nachbar sagt zum
ersten Mal «guten Tag». Es ist Anfang April 2005. Johannes Paul II. wird
beigesetzt. Seine Generation lebt weiter.
Maria Graczyk
(NZZ, 08.04.2005)
(NZZ, 08.04.2005)
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