Direkt zum Hauptbereich

Abfall-Revolution an der Weichsel

Um die EU-Recylingziele einzuhalten muss Polen in den nächsten sieben Jahren doppelt soviel Müll aufbereiten. Ein neues Gesetz soll die Mentalität ändern, doch es regt sich viel Widerstand.



Fot. EC

Paul Flückiger, Warschau (2013)

Schmucke Holzvillen der letzten Jahrhundertwende und protzige neue Einfamilienhäuser mit mannshohen Zäunen wechseln sich entlang des Flüsschens Swider. Vögel zwitschern, es plätschert das Flüsschen. Doch die Idylle in der Gartenstadt Otwock gleich vor Warschau täuscht: Krähen weisen den Weg; an einer Böschung wird der Müll der Siedlung einfach hingeworfen.

Tausende von wilden Abfallhalden gibt es in Polen. Laut Schätzungen landet rund ein Sechstel der polnischen Haushaltsabfälle auf illegalen Deponien. Der meiste Abfall wird immer noch einfach in der Erde vergraben, dem Recycling oder Kompost zugeführt wird gerade einmal 28 Prozent – weit weniger als im EU-Durchschnitt. Doch dies soll sich nun ändern. Bis 2020 muss laut Brüsseler Vorgaben die Hälfte des Hausmülls dem Recycling zugeführt werden. Bisher erfüllen nur Deutschland, Österreich und Benelux diese Vorgaben. Polen steht im regionalen Vergleich zwar gut da, nur Estland ist beim Abfall noch umweltbewusster. In Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Lettland landen noch heute über 85 Prozent des Abfalls auf legalen oder illegalen Deponien. „Polen und Ungarn haben ihre Recyclingraten seit dem EU-Beitritt erheblich verbessert“, lobt die Europäische Umweltagentur.

Doch der Brüssler Drohfinger mit seinen schmerzhaften Geldstrafen bleibt erhoben. Die Regierung hat deshalb 2012 zuerst mit vierjähriger Verspätung die Abfallgesetzgebung angepasst. Mitte dieses Jahres steht eine wahre Abfall-Revolution an. Die Bevölkerung muss ab dann den gesamten Hausmüll trennen, die Gemeinden werden automatisch zu Besitzern dieses Abfalls. Die freiheitsliebenden Polen sollen durch Geldanreize und technische Hilfsmittel zur Müllsegregation erzogen werden. Viele Gemeinden haben damit begonnen, bunte „Güselsäcke“ - grün für Glas, rot für andere Recyclingmaterialien, schwarz für den Rest – zu verteilen. Laut Gesetz sollen die Müllgebühren leicht sinken. Nur wer den Müll nicht trennt, zahlt bis zu 40 Prozent mehr.

In den stalinistischen Wohnblocks der Warschauer Wyzwolenia-Strasse soll der gute alte Müllschlucker bald zugeschweisst werden. Die Klappe auf jedem Stockwerk frass 60 Jahre lang einfach alles und füllte damit grosse Tonnen im Keller. In vielen Siedlungen ist mit solch einfachen Entsorgungsmodellen jedoch schon lange Schluss. Seit zehn Jahren versucht die Wohnungsverwaltung „Sonata“ im Stadtteil Praga ihre rund 300 Haushalte zum einfachst möglichen Recyclingmodell zu erziehen. Zu unterscheiden ist nur Nass- und Trockenabfall. „Ein Viertel ist auch damit überfordert“, schüttelt ein Wohnungsbesitzer den Kopf und zeigt auf die grüne Tonne für den Nassmüll. Dort liegen PET-Flaschen, Plasticfolien und Zeitungen. „Die Rechung dafür müssen wir jedoch alle bezahlen“, regt sich der junge Mann schon heute auf. Wird der Müll nicht sortiert, belegt die zuständige Hauptstadtgemeinde nämlich künftig die ganze Siedlung mit den Sonderabgaben.

Der Aufruhr gegen das neue Gesetz ist deshalb gross. Alle klagen. Die bisher Tausenden von kleinen Müllabfuhrfirmen sind überzeugt, nur Grosse könnten den einsetzenden Preiskampf überleben. Die Hälfte der Gemeinden ist mit Ausschreibungen und Informationsbroschüren in Verzug. Die westpolnische Stadt Innowroclaw hat gar vor dem Verfassungsgerichtshof gegen das neue Gesetz geklagt. Ökologen befürchten unkontrollierte Abfallflüsse, denn sobald der Müll eine Gemeinde verlassen hat, ist niemand mehr dafür zuständig. Statt mehr Recycling könnten Polen so bald mehr wilde Deponien drohen, warnen sie. 

Dieser Text ist im Mai 2013 in der NZZaS erschienen.

Mehr aus Polen:

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

  Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt. Von Paul Flückiger Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger. Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prac

Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 gef ü hrt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell.  - Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Le

Das Heimweh trieb sie zurück: Zu Besuch bei zwei betagten Frauen, die in der Todeszone von Tschernobyl ausharren

  Vor genau 35 Jahren ereignete sich in der damaligen Sowjetunion die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Ganze Städte wurden dicht gemacht. Zwei Rücksiedlerinnen hielten es in der Ferne nicht mehr aus. Auf dem Weg zu ihnen in die verbotene Zone gilt nur eine Devise: Bloss nicht erwischen lassen. Paul Flückiger, Bartolomejewka Die Landstrasse von der Grossstadt Gomel nach Stolbun an der russischen Grenze ist wenig befahren. Hier, im äussersten Nordosten Weissrusslands, gibt es keinen Grenzübergang zum grossen Nachbarn. Bald hinter der Provinzstadt Wetka leben auch nur noch wenige Menschen in dem stark bewaldeten Gebiet. Schuld daran ist das 150 Kilometer südlich liegende Atomkraftwerk Tschernobyl. Als es dort am 26. April 1986 zum GAU kam und der vierte Reaktorblock explodierte, trieben radioaktive Wolken mindestens zehn Tage lang in diese Richtung. Russland wurde vom GAU wenig belastet, die damalige «Belarussische Sowjetrepublik» (BSSR) hingegen sehr stark. Bis heute gib