Direkt zum Hauptbereich

Ein geheimnisvoller Inkaschatz in Polen



Schloss Niedzica - exotische Spuren im polnisch-slowakischen Grenzgebiet 

Fot. Wikipedia


Von Paul  Flückiger, Niedzica

«Achtung Gespenst!», warnt ein dreieckiges Verkehrsschild beim Aufstieg zum Schloss Niedzica. Die Schulklassen, die das Schloss vor allem besuchen, machen davor Erinnerungsfotos. Das Gespenst sei der Geist der Inkaprinzessin Umina, die hier Ende des 18. Jahrhunderts von spanischen Schergen erdolcht worden sei, wird jungen und erwachsenen Besuchern von den Schlossführern erzählt. Er bewache einen geheimnisvollen, hier vergrabenen Inkaschatz. 

Fünfmal die Herrschaft gewechselt 

   Der Besucher befindet sich in einem der hintersten Täler der polnischen Gegend Spisz (deutsch: Zips) im östlichen Tatra-Gebirge; es ist vorwiegend von Angehörigen der slowakischen Minderheit bewohnt. Hierher verfahren sich um diese Zeit keine Touristen; dafür liegt Polens Wintersportdestination Zakopane zu verlockend nah hinter den Hügeln. Zwei Kilometer ostwärts vom Dörfchen Niedzica (slowakisch: Nedec), immer dem Fluss Dunajec entlang, liegt die heutige slowakische Grenze, ebenso weit in westlicher Richtung erhebt sich stolz das Schloss Niedzica. Anfang des 14. Jahrhunderts wurde es am damaligen Nordrand Ungarns als Wehrburg gegen die Polen errichtet. Der polnische König Kazimierz der Grosse reagierte um 1350 auf der polnischen Seite, in Czorsztyn, mit dem Bau einer eigenen Grenzfeste. Heute liegen beide Wehranlagen in Polen, das zwischen ihnen liegende Dunajec-Tal wurde an dieser Stelle Anfang der neunziger Jahre in einen Stausee verwandelt. 
 
Der Bau war damals sehr umstritten und ist es unter der lokalen Bevölkerung noch heute. Ihre neuen Weiden seien schlechter als jene direkt am Fluss, klagt eine alte Frau, die unweit des Schlosses am Seeufer eine Kuh weidet. Aber die Herren setzten ihren Willen eben immer durch. Die Frau weiss, wovon sie spricht. Fünfmal hat sie den Pass gewechselt, ohne ihr Dorf ein einziges Mal verlassen zu haben. Als sie vor mehr als 80 Jahren in Niedzica geboren wurde, gehörte das Gebiet noch zu Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschechoslowakei geschlagen, wurde es 1920 von Polen annektiert. Die Dörfer rund um das Schloss blieben allerdings bis 1945 im Privatbesitz der letzten Herren von Niedzica, eines ungarischen Adelsgeschlechts. Bis 1931 herrschte hier die Leibeigenschaft. Die Frau berichtet vom ersten eigenen Acker, der brutalen Besetzung der Deutschen und den schrecklichen Taten der Roten Armee, die das Schloss 1945 plünderte. «Ach, man erzählt vieles», winkt sie, angesprochen auf den Inkaschatz, ab. 

Ein ungarischer Haudegen 

Ein Inkaschatz in Polen! Die Geschichte hört sich zu phantastisch an, um wahr zu sein. Und doch, der älteste Schlossführer, Franek Szydlakow, dessen Vater noch als Tischler beim Burgherrn beschäftigt war, behauptet felsenfest, er sei 1946 dabei gewesen, als unter einer Treppe ein Zinnrohr gefunden worden sei, das neben Gold ein Quipa enthalten habe. Den Weg zur Entschlüsselung des Quipa, einer Knotenschnur, die den Inkas als Schrift diente, säumen mehrere Todesfälle und Verschwundene. Bekannt ist sein Inhalt bis heute nicht, ja selbst die Spur des Quipa scheint sich verloren zu haben. 
 
Am Anfang der Geschichte um den geheimnisvollen Inkaschatz von Niedzica steht ein ungarischer Haudegen, Sebastian Berzewiczy. Der junge Adelige, ein entfernter Verwandter der damaligen Burgherren von Niedzica, war 1760, angelockt vom sagenumwobenen Goldschatz der Inka, nach Peru gereist. Gold fand er keines, doch verliebte er sich in eine direkte Nachfahrin des von Pizarro unterjochten Atahualpa. Bald nach der Heirat starb die Inkaprinzessin bei der Geburt der ersten Tochter. Berzewiczy aber blieb in Peru, nahm auf der Seite der Inka an einem der letzten grossen Aufstände gegen die Spanier teil und verheiratete seine Tochter Umina mit dem Anführer des Widerstands, einem Ururenkel des letzten Inkaherrschers Tupac Amaru. 

Adoptiert und vergessen 

Um das Herrschergeschlecht zu retten, so will es scheinen, reiste er mit seiner Tochter, deren Mann Tupac Amaru II und einem Inkahofstaat zurück nach Europa. Dort suchte er zuerst Asyl in Venedig, zog sich dann aber, nachdem Tupac Amaru II bei einem Attentat ums Leben gekommen war, in die unwegsame Zips auf das Schloss Niedzica zurück. Im Gepäck hatte er, glaubt man polnischen Historikern, einen Teil jenes geheimnisvollen Inkaschatzes, den man heute im Titicacasee vermutet. 1797 wurde der «ungarische» Inkahofstaat in Niedzica von Schergen des spanischen Königs aufgespürt, und Umina wurde erdolcht. Um seinen Enkel, den nunmehr letzten Inkaprinzen, ein für allemal untertauchen zu lassen, soll ihn Sebastian Berzewiczy als Adoptivsohn an einen Verwandten weitergegeben haben. Den Schatz habe Berzewiczy, so heisst es, in der Gegend vergraben und die Lage des Verstecks in einem Quipa festgehalten. 
 
Anton Benes, wie der letzte direkte Nachkomme Tupac Amarus nun hiess, soll, so der Warschauer Historiker Aleksander Rowinski, unerkannt in der Nähe von Brünn (tschechisch: Brno) gestorben sein und sich zeitlebens nie für den Schatz interessiert haben. Anders sein Urenkel, ein gewisser Andrzej Benesz: Der spätere Vizepräsident des Parlaments der Volksrepublik Polen will in den dreissiger Jahren erstmals von dem geheimnisvollen Schatz erfahren haben. 1946 fand er in Krakau angeblich die Adoptionsurkunde seines Urgrossvaters, in der das Versteck des Quipa beschrieben war. Noch im selben Jahr will er die in einem Zinnrohr versteckte Inka-Schnurschrift gefunden haben. Zwei Expeditionen entsandte der hochrangige polnische Politiker in den siebziger Jahren nach Peru, um die geheimnisvolle Schrift zu entschlüsseln. Doch beide Male verschwanden die Expeditionsteilnehmer spurlos. Ende Februar 1976 kam Andrzej Benesz, angeblich unterwegs zu einem Treffen mit zwei Quipa-kundigen Ausländern, auf dem Weg von Warschau nach Danzig bei einem Autounfall ums Leben. 

Mit 300 Tonnen Beton versiegelt 

Sein Sohn, ein Anwalt in Danzig, verweigert jede Aussage zu dem Thema. Rowinski, der die Geschichte um den geheimnisvollen Inkaschatz in Niedzica seit über 30 Jahren zu ergründen versucht, glaubt, das Versteck in einer Burgruine rund 70 Kilometer nördlich von Niedzica, ebenfalls am Fluss Dunajec gelegen, lokalisiert zu haben. Deren Besitzer, ein Krakauer Geschäftsmann, soll den Eingang zu geheimen unterirdischen Gängen angeblich mit 300 Tonnen Beton versiegeln lassen haben. Er wolle den Schatz nicht heben, denn er benötige ihn weder zu seinem Glück, noch sei er auf das Gold angewiesen, wird der Besitzer zitiert. 
 
Im Schloss Niedzica, wo ein Teil der Kammern inzwischen in stilvolle Gästezimmer umgebaut worden ist, kann der Besucher derweil ruhige Ferientage in der Abgeschiedenheit des heute polnisch-slowakischen Grenzlandes verbringen - ungehindert vom Getöse der Geschichte und von Gespenstern. Einzig lärmende Schulklassen stören manchmal morgens kurz die Stille. Sie verstummen jeweils, wenn ihnen die haarsträubende Geschichte des sagenumwobenen Inkaschatzes erzählt wird. 

Diese Reportage ist 2004 in der NZZ erschienen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Tschernobyl - die groesste Atomkatastrophe und ihre Folgen

Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen AKW Tschernobyl zur bisher grössten zivilen Atomkatastrophe. Bei einem Sicherheitsexperiment war es im Vierten Reaktorblock zur Explosion gekommen. Dabei gelangten hoch radioaktive langlebige Isotope wie Strontium-90 und Cäsium-137 in die Athmosphäre. Text und Fotos: Paul Flückiger Leben am Rande der Todeszone Die gerade herrschenden Nordwinde trugen diese vor allem nach Weissrussland , wo infolge der von der Moskauer Sowjetführung künstlich erzeugten Regenfälle zu 72 Prozent auf dem Gebiet der Weissrussischen SSR niedergingen. Derweil liessen die Sowjetbehörden die einfache Bevölkerung tagelang im Ungewissen über das Ausmass der Katastrophe. Von Tschernobyl selbst und der nahen Stadt Pripjat wurden die Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag zwangsweise evakuiert. Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In der Folge wurden in einem Umkre

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

  Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt. Von Paul Flückiger Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger. Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prac

Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 gef ü hrt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell.  - Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Le