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"Ich fühle die Kundenwünsche im Voraus" - Beim Coiffeur in Polen




Paul Flückiger, Warschau (2009)

Ryszard Paczynski frisiert seit 65 Jahren vor allem im einstigen Warschauer Kleinkriminellenviertel Praga, als junger Mann war er ein Jahr lang Parlamentscoiffeur. Einmal Haareschneiden, bitte!

Welcher Schnitt ist zur Zeit angesagt?
Seit ein paar Jahren wollen es alle vor allem kurz. Leider ist gerade das angesagt, was jeder auch selber machen kann, seit die elektrischen Schneidmaschinen so billig geworden sind.

Haben Sie eine spezielle Methode?
Ich schaue einen Kunden an und sehe gleich, was für eine Frisur er will. Ich diskutiere nicht lange, sondern beginne ruhig mit meine Arbeit. Das Vertrauen stellt sich damit schnell ein.

Warum sind Sie Coiffeur geworden?
Weil ich hungrig war. Das war mitten im Krieg, 1943. Meine Eltern waren ungebildet, mein Vater hatte keinen Beruf. Sie waren mit der ganzen Situation überfordert. Wenn ich Geld nach Hause brachte, konnte meine Mutter uns etwas zu Essen kochen, wenn nicht, dann nicht. Es gab einen Coiffeursalon in der Nähe, wo ich manchmal aushelfen konnte.

Wie haben Sie ihr Handwerk erlernt?
Zuerst dürfte ich den Kunden nur die Türe öffnen, den Mantel abnehmen und danach die Haare vom Boden aufwischen. Doch dann erkannte der Meister mein Talent und ich konnte manchmal selbst schneiden. Ich erlernte alles in der Praxis, eine Coiffeurschule habe ich nie besucht. Ich musste sogar meine Grundschule abbrechen, um Geld zu verdienen.

Was sind ihre Zukunftspläne?
Ein leichter Tod.

Wer schneidet Ihre Haare?
Mein junger Kollege im Salon, oder aber mein Chef. Wir kennen uns schon fast 50 Jahre, mit 46 Berufsjahren in diesem Salon ist er noch länger hier, als ich. Früher haben wir zusammen für unsere nicht besonders arbeitsame Chefin gearbeitet, vor ein paar Jahren hat er den Salon übernommen. Er ist Witwer wie ich, heisst Ryszard wie ich und unsere Ehefrauen hatten auch fast die gleichen Namen.

Haben Sie viele Stammkunden?
Ich habe nicht mehr viele Kunden, da ich nicht mehr den ganzen Tag im Salon arbeiten kann. Ich bin zu schwach dazu. Aber etwa die Hälfte meiner Kunden sind Stammkunden, darunter ein paar Kinder, der Rest ist Gelegenheitskundschaft.

Was sind das für Leute?
Hier lassen sich alle die Haare schneiden. Es gibt Arbeiter und auch viele Intellektuelle. Auch der Bruder eines Polizeigenerals gehörte zu meinen Stammkunden. Die Gelegenheitskunden kommen vom Einkaufen oder müssen auf den Vorortszug und haben noch etwas Zeit. Wir sind viel billiger als die Konkurrenz, deshalb kommen sie zu uns. 

Welche Art Kunde ist die grösste Herausforderung?
Die Besserwisser. Sie sind ungeduldig und beschweren sich, bevor ich fertig bin. Zum Glück gibt es wenige davon. Sehr schwierig sind auch betrunkene Kunden. Deshalb frisieren wir keine Betrunkenen.

Haben Sie prominente Kunden?
Heute nicht mehr. Aber in den Fünfzigerjahren habe ich ein Jahr lang im Coiffeursalon des Sejm, des Parlaments, gearbeitet. Damals kam der Landwirtschaftsminister jede zweite Woche zu mir. Auch den damaligen Kulturminister habe ich frisiert, solange er noch Haare hatte. Später liess er sich den Kopf kahl rasieren. Ein paar Mal schnitt ich auch dem Schauspieler Jan Kreczmar (1908-72) das Haar.

Wem würden Sie gerne die Haare schneiden?
Ich habe weder Hemmungen noch Lampenfieber und kann jedem das Haar schneiden, der unsern Salon besucht. Naja, wenn ich wählen muss, so würde ich gerne meinem Präsidenten Lech Kaczynski das Haar schneiden. Das wäre etwas!

Wann ist eine Frisur aus Ihrer Sicht gelungen?
Wenn sie gut geschnitten ist.

Wie meinen Sie das?
Das kann man nicht erklären, das sieht man.

Welche Reaktionen haben Sie schon erlebt?
Normalerweise sind die Kunden zufrieden. Aber einmal, noch im Kommunismus, hat einer das Reklamationsheft verlangt, daraus ein paar Seiten gerissen und damit einen Fisch eingewickelt. Im Fischladen sei das Papier ausgegangen, beklagte er sich bitterlich.

Haben Sie sich schon einmal geweigert, einen Wunsch zu erfüllen?
Wenn der Kunde darauf besteht, mache ich, was er will. Wenn sich aber ein Kunde rasieren lassen will, muss ich leider nein sagen. Rasieren dürfen wir seit der AIDS-Gefahr nicht mehr. Das bedauere ich sehr, aber ich kann es nicht ändern.

Was gefällt Ihnen an Ihrer Stadt?
Ich bin in Warschau geboren und hier in Praga aufgewachsen. Auf dieser Seite der Weichsel sind viel mehr Häuser erhalten geblieben, weil bei uns der Warschauer Aufstand 1944 nur ein paar Tage dauerte. Nachdem sich die Aufständischen der deutschen Übermacht beugen mussten, sind wir zusammen mit meinem Meister nach Zeran geflüchtet, dort wo heute die Autofabrik steht. Doch bald wurde ich zur Zwangsarbeit nach Hannover verschleppt, zuerst in eine Zuckerfabrik, dann zum Bauern. Nach dem Krieg wollte ich nur nach Warschau zurück, obwohl mir der Bauer anbot, bei ihm zu bleiben. Doch ich hatte mir keine Vorstellungen gemacht, wie zerstört meine Stadt sein würde. Und da es keine Arbeit gab, bin ich meinem älteren Brüder nach Glupczycy an die tschechische Grenze gefolgt und habe dort als Coiffeur gearbeitet. Doch mein Herz wollte einfach zurück. Hören Sie zu, ich singe Ihnen ein Lied über Warschau: „Wie das Lächeln der Liebsten, wie blühender Flieder im Frühling, wie morgendlicher Schwalbengesang (...) rufst du mich voller Sehnsucht (...) du mein erträumtes Warschau, so sehr möchte ich dich wiedersehen“. Warschau war wunderschön, und es wird es heute wieder, aber ich bin dafür zu alt.

In Praga gibt es allerdings immer noch viele unbewohnbare und zugemauerte Häuser...
Das stimmt, aber vieles hat sich zum Besseren gewendet. Sehen sich die Zabkowska-Strasse unweit von hier an! Dort wurden die Fassaden erneuert und in den alten Vorkriegshäusern haben viele Kneipen aufgemacht. Auch der Vilnius-Bahnhof gegenüber unserem Salon war jahrelang eine halbe Ruine. Heute haben wir ein schönes Einkaufszentrum über den Geleisen und alles ist sauber. Dennoch kann ich mich darüber nur bedingt freuen, denn mir fehlt das Geld, um zu flanieren oder die neuen Kneipen und Kinos zu besuchen. Wenn ich daran denke, dass viele einstige kommunistischen Geheimdienstler fünfmal mehr Rente kriegen als ich, überkommt es mich. Doch das verdränge ich, sonst könnte ich mich vor Ärger gar nicht mehr zur Arbeit aufraffen.

Wo verbringen Sie ihre Ferien?
Ich habe keine Ferien. Im Sommer vor dem Kriegsrecht (1981) war ich mit meiner Frau am Roznowski-See bei Nowy Sacz. Damals lebte meine Frau noch, und wir hatten es sehr schön. Das war mein letzter Urlaub. 





Ryszard Paczynski, Warschau, Polen, ist 81 Jahre alt, verwitwet. Er hatte drei Kinder, eines davon ist vor vier Jahren gestorben. Er arbeitet seit 65 Jahren als Coiffeur. Mit seinem jüngsten Sohn (46) teilt er eine 55m2 grosse Dreizimmer-Wohnung im Stadtteil Praga und zahlt dafür 185 Franken Miete. In seiner Freizeit ruht er sich zuhause aus. Paczynski arbeitet im Salon eines guten alten Berufskollegen auf Kommission. Nach der Wende von 1989 versuchte er, sich selbstständig zu machen, doch die Erkrankung seiner Beine setzte diesen Plänen ein Ende. Er arbeitet an fünf Wochentagen am Nachmittag und verdient damit rund 500 Zloty (185 Franken) zu seiner 390-Franken-Rente.

Salon:
Der Salon liegt in der noch vor wenigen Jahren als unsicher geltenden Bialystoker-Strasse (ul. Bialostocka). Doch seit sich der lange vernachlässigte Stadtteil Praga als Warschauer „In“-Quarier etabliert und der alte Bahnhof gegenüber des Coiffeursalons zum Einkaufszentrum umgebaut wurde, erfreut sich die Strasse immer grösseren Zuspruchs. Davon profitiert auch der Salon, dem die Lage viel Laufkundschaft beschert.

Preis für einen durchschnittlichen Haarschnitt:
Ein Herrenhaarschnitt kostet 5 Franken, Kinder und Jugendliche zahlen 3,70 Franken. Paczynski schneidet auf Abruf. Voranmeldungen gibt es in dem Salon keine. 

Dieser Text ist 2009 im NZZ Folio erschienen. 
 

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