Direkt zum Hauptbereich

Russenangst im Schatten von Kaliningrad

Im Dreiländereck zwischen Polen, Litauen und der russischen Enklave bereiten sich viele schon heute auf Putins nächste Invasion vor.

Paul Flückiger, Kalvarija (2014)

Gefährlich sei es hier oben an der Grenze zu Kaliningrad eigentlich nicht, erklären die grimmigen Sicherheitsbeamten im Schnellzug Warschau – Suwalki. Dennoch patrouillieren sie mit Schlagstock und Pistole am helllichten Tag in den fast leeren Wagen. Jan S. erzählt auf der Autofahrt ins angrenzende Litauen, es wäre natürlich besser, wenn in Suwalki eine Bürgerwehr auf die Russen wartete. „Putin würde sich einen Angriff dann wohl zweimal überlegen“, hofft der graumelierte fünffache Familienvater.

Die Gründung von Bürgerwehren hatten politisch aktive Geschäftsleute in der 140 Kilometer entfernten polnischen Provinzhauptstadt Bialystok angeregt. Doch in Suwalki halten dies die meisten befragen Passanten für Wahlkampfgag. Rund 50 Kilometer sind es von hier zur russischen Enklave Kaliningrad, etwa halb so weit entfernt liegt Litauen. Und wer politisch interessiert ist, verfolgt seit Wochen vor allem die Lage im rund 1000 Kilometer östlich liegenden Donbass.

„Putins „grüne Männchen“ würden wir sofort enttarnen“, sagt Mindaugas Lietuvinas im Garten neben seiner Autoelektrikerwerkstatt im litauischen Grenzstädtchen Kalvarija. „Doch wenn sie zu schiessen beginnen, muss die Armee her“, gibt der Mittvierziger zu bedenken. Lietuvinius ist örtlicher Rottenführer des „Litauischen Schützenbundes“ und verzeichnet als solcher seit der Ukraine-Krise einen Zuwachs von rund einem Drittel Mitglieder. 20 Erwachsene und rund 40 Jugendliche hat er unter sich. Die Erwachsenen treffen sich am ersten Samstag jedes Monats und üben die Selbstverteidigung – Flugzeugerkennung und Waffenputzen genauso wie Orientierungsläufe. „Ich würde am liebsten schon heute in den Donbass abreisen, um auf der Seite Kiews gegen Russland zu kämpfen“, sagt der einstige Geheimdienstoffizier. Doch seine Frau und die vier noch halbwüchsigen Kinder würden ihn hier zurückhalten.

Der vor fast Hundert Jahren gegründete „Verteidigungsbund“ ist heute eine der beiden legalen paramilitärischen Organisationen des grössten und westlichsten Baltenstaates. Etwa zwei Dutzend Funktionäre werden vom Verteidigungsministerium finanziert, alle andern sind Freiwillige. Waffen liegen für den Ernstfall in einer Kaserne im nahen Mariampole bereit. „Ich hoffe natürlich, wir müssen sie nicht einsetzen“, sagt Lietuvinius. Wie viele in Kalvarija betont er indes, dass Putin die litauische Unabhängigkeit de facto nicht anerkenne und dem Russen alles zugetraut werden könne.
In Litauen hat die Entführung eines estnischen Sonderpolizisten nach Moskau Anfang September für Unruhe und verstärkte Grenzkontrollen gesorgt. Der Este wird in Russland der Spionage angeklagt, doch alle drei baltischen Regierungen sehen darin vor allem eine Drohung des Kreml. Kürzlich hatte Putin auch mit einer möglichen Eroberung von Riga innerhalb nur zweier Tage gedroht. Das alles hat die baltische Solidarität von Tallinn über Riga bis Vilnius wieder einmal gegen Moskau zusammen gebracht – genauso wie vor 25 Jahren die Menschenketten der „Singenden Revolution“.


Auf der nächtlichen Rückfahrt über die nahe Grenze nach Polen, wird der PKW von der litauischen Grenzpolizei gestoppt. Ein kritischer Blick ins Wageninnere und die Zusicherung, die Dokumente seien in Ordnung, genügt dem Grenzwächter. Die Zollabfertigungsgebäude auf beiden Seiten der einstigen Aussengrenze der Sowjetunion wirken umso gespenstischer, als sie heute mitten im Schengenraum stehen. Vielleicht hätten sie ja nur vietnamesische Flüchtlinge gesucht, meint der Fahrer. Doch im Zug zurück nach Warschau fordert Putins Krieg seine ersten polnischen Opfer. „Pack deine Sachen, wir ziehen sofort vom Block auf die Datscha!“, herrscht eine ältere Frau ihre erwachsene Tochter an. Die Konserven seien schon gekauft, auch habe sie mehr Früchte eingemacht, alles sei bereit für den Einmarsch der Russen. „Putins Gas brauchen wir nicht, dort heizen wir mit Kohle“, sagt die Alte und ihre Stimme duldet keinen Widerspruch.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Auf acht Quadratmetern quer durch Europa

  Der kleinste polnische Wohnwagen Niewiadów N126 Polnische Touristen eroberten mit dem Winzling ab den siebziger Jahren Südost- und auch Westeuropa. Das machte den «N126» zum Kult. Die Produktionsfirma wurde Ende 2020 hundert Jahre alt. Von Paul Flückiger Als der Dorfpolizist die legendäre «Niewiadowka» auf das Grundstück fährt, dämmert es schon fast. «Sehen Sie her, sogar das Rücklicht habe ich repariert», sagt er stolz. Und in der Tat leuchtet es zwischen dem Landeskennzeichen «PL» und der Seriennummer «N126» unter der mit Klebeband reparierten Plexiglasscheibe schummrig orange. «Ich hoffe, Sie fahren damit nicht allzu weit», sagt der Mittvierziger. Auch eine Gasflasche sollte man zwischen der Aussenbox und dem Herd besser nicht mehr anzuschliessen versuchen, meint er. Der Polizist ist ausser Dienst und deshalb etwas gesprächiger als sonst. Das Baujahr des «N126» vermutet er irgendwo zwischen 1979 und 1982, genau weiss er es nicht. «Zu kommunistischer Zeit war das ein Prac

Tschernobyl - die groesste Atomkatastrophe und ihre Folgen

Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 kam es im sowjetischen AKW Tschernobyl zur bisher grössten zivilen Atomkatastrophe. Bei einem Sicherheitsexperiment war es im Vierten Reaktorblock zur Explosion gekommen. Dabei gelangten hoch radioaktive langlebige Isotope wie Strontium-90 und Cäsium-137 in die Athmosphäre. Text und Fotos: Paul Flückiger Leben am Rande der Todeszone Die gerade herrschenden Nordwinde trugen diese vor allem nach Weissrussland , wo infolge der von der Moskauer Sowjetführung künstlich erzeugten Regenfälle zu 72 Prozent auf dem Gebiet der Weissrussischen SSR niedergingen. Derweil liessen die Sowjetbehörden die einfache Bevölkerung tagelang im Ungewissen über das Ausmass der Katastrophe. Von Tschernobyl selbst und der nahen Stadt Pripjat wurden die Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag zwangsweise evakuiert. Tschernobyl - Leben am Rande der Todeszone In der Folge wurden in einem Umkre

Joseph Bochenski: Für eine Kultur des rationalen Arguments

"Wer glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat, braucht die Wissenschaft nicht zu fürchten. Ich bin ein ausgeprägter Rationalist, unter anderem deshalb, weil ich ein gläubiger Mensch bin - sagte Joseph Bochenski. - Die Wissenschaft ist voll von Widersprüchen, die aufzulösen sind – gemäss dem Sprichwort von Whitehead, dass „ein Widerspruch keine Katastrophe ist, sondern eine Gelegenheit. Nur Menschen schwachen Glaubens oder von kleinem Verstand fürchten sich vor der Wissenschaft. Der Glaube ist keine Verstandessache, man kann ihn nicht beweisen, aber wenn man bereit ist zu glauben, muss man seinen Verstand benutzen." Das Interview mit dem polnisch-schweizerischen Philosophen udn Dominikanern wurde 1992 gef ü hrt, doch bleiben Bochenskis Aussagen auch heute aktuell.  - Als Wissenschaftler und Geistlicher verbinden Sie in Ihrer Arbeit Glauben und Wissenschaft. Was für ein Verhältnis besteht zwischen beiden, anscheinend widersprüchlichen Bereichen des menschlichen Le